»Wie konnte Gulban Euch dann bitten, für Torcan den Gastgeber zu spielen?« wollte Eadulf wissen.
»Am Morgen nach Schwester Fidelmas Ankunft in der Abtei traf Torcan hier ein. Er überbrachte mir ein Schreiben meines Vaters, in dem dieser mich bat, Tor-can bei der Jagd zu begleiten. Mein Vater weiß, daß Jagen meine Lieblingsbeschäftigung ist. Wahrscheinlich habe ich den Brief noch in meinem Gepäck.«
»Und Ihr habt weder Gespräche noch Gerüchte über eine Verschwörung oder einen Aufstand gehört?«
»Nein! Das kann ich beschwören!«
»Wie hat Adnar von dem Komplott gegen Cashel erfahren?« fragte Eadulf.
»Vermutlich von Torcan oder einem seiner Männer. Ich weiß es nicht.«
»Aber er hat gesagt .« begann Eadulf.
Von der Zellentür her hörten sie ein Geräusch. Bruder Febal stand plötzlich im Eingang. Seine sonst so ebenmäßigen Gesichtszüge waren wutverzerrt.
»Was hat das zu bedeuten? Mit welchem Recht seid Ihr hier eingedrungen, Schwester?« fragte er, als er Fidelma erkannte. »Dieser junge Mann hier ist Adnars Gefangener. Ihm wird vorgeworfen, sich an einer Verschwörung gegen Cashel beteiligt zu haben.«
»Aufgrund meiner Stellung und Machtbefugnisse habe ich das Recht, ihn zu verhören«, erwiderte Fidelma ruhig. »Ihr solltet das eigentlich wissen, Febal.«
»Ohne Adnars Zustimmung kann ich das nicht gestatten.«
»Das braucht Ihr auch nicht.« Fidelma warf einen langen, nachdenklichen Blick auf Gulbans Sohn. »Ich habe keine weiteren Fragen mehr, Olcan. Demnächst wird der Fall vor dem obersten Brehon der Loigde verhandelt. Bis dahin müßt Ihr Euch mit Eurer neuen Unterkunft abfinden.«
»Aber ich bin unschuldig!« protestierte Olcan.
»Dann betrachtet diese vorübergehende Unbill als eine Art Prüfung«, empfahl ihm Fidelma mit einem Lächeln. »In seinem Werk De Providentia warnt uns Seneca mit den Worten: Ignis aurum probat, miseria fortes viros - Feuer prüft Gold, Unglück tapfere Männer. Möget Ihr Euch als tapfer erweisen.«
Mit diesen Worten verließ sie die Zelle, Eadulf im Schlepptau.
Bruder Febal bedeutete einer Wache, die Tür zu schließen, und folgte den beiden.
»Ich werde Adnar darüber berichten müssen.«
»Ab sofort unterstehen alle Bewohner dieser Festung den Weisungen der Loigde, die entweder von ihrem Kriegsschiff, das in der Meerenge vor Anker liegt, erteilt werden, oder von Beccan, ihrem obersten Richter, der im Auftrag Eures Häuptlings Bran Finn handelt. Folglich obliegt es nicht mehr Adnar, seine Zustimmung zu geben oder nicht. Bei der Vorverhandlung werden wir die Wahrheit über die tragischen Ereignisse erfahren.«
Bruder Febal sah sie böse an.
»Auf diesen Augenblick wartet niemand sehnlicher als ich. Dann wird endlich alles, was ich über Draigen gesagt habe, ans Licht kommen.«
Bevor er weiterreden konnte, hatte Fidelma Eadulf schon zu dem kleinen Anlegesteg außerhalb der Festung geführt. Der Mönch war überrascht, als sie den wartenden Bootsführer bat, sie zu dem gallischen Handelsschiff zurückzurudern, und noch überraschter, als sie, dort angekommen, Odar aufforderte, sie unverzüglich zu begleiten.
»Ich möchte, daß Ihr mich zu dem Bauern bringt, bei dem Ihr die Pferde ausgeliehen habt«, erklärte sie ihm.
»Barr?«
»Ja, das ist der Mann. Wohnt er weit von hier?«
»Ein kleiner Spaziergang über den Berg, aber leicht zu bewerkstelligen, wenn wir ein gleichmäßiges Tempo vorlegen«, antwortete der Seemann.
Barr war ein untersetzter Mann mit einem buschigen braunen Bart und machte den Eindruck, als könne er ein Bad gebrauchen. Seine Kleider waren ebenso schmutzig wie sein Gesicht. Als sie eintrafen, arbeitete er gerade mit der Hacke auf einem Acker. Sein feistes Gesicht und die Art, wie er sie aus seinen kleinen, dunklen Augen ansah, brachte Fidelma auf den Gedanken, daß ein Schwein doch vergleichsweise ansehnlich war.
»Odar«, begrüßte sie der Bauer barsch, »falls Ihr wieder einmal gekommen seid, um Pferde zu mieten, die habe ich verkauft. In diesem eisigen Winter ist cu-irm ein weitaus besserer Trost für mich.«
»Wir sind nicht wegen der Pferde gekommen, Barr«, mischte sich Fidelma ein.
Der Mann sah sie fragend an und wartete.
»Habt Ihr Eure Tochter schon wiedergefunden?«
Barr stieß ein bellendes Lachen hervor.
»Ich habe gar keine Tochter. Was ...«
Dann weiteten sich seine Augen, und Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Barr war kein guter Lügner.
»Warum habt Ihr der Äbtissin erzählt, daß Eure Tochter verschwunden ist?«
Barr schwieg verwirrt.
»Man hat Euch aufgetragen, in die Abtei zu gehen, nicht wahr?«
»Das war doch nichts Verbotenes«, protestierte der Bauer.
»Der junge Herr befahl mir, hinzugehen und zu behaupten, daß meine Tochter verschwunden ist und daß ich den Leichnam sehen will, um festzustellen, ob sie es ist oder nicht.«
»Selbstverständlich. Hat er Euch Geld geboten?« »Genug, um drei gute Pferde zu kaufen.« Der Mann verzog das Gesicht. »Ich habe mit ihm gehandelt, versteht Ihr. Er war sehr an meinen Diensten interessiert.«
»Und was genau solltet Ihr tun?«
»Ich sollte mir nur die Leiche ansehen, allerdings sehr sorgfältig, und dem jungen Herrn dann eine genaue Beschreibung liefern.«
»Eine Beschreibung?« hakte Fidelma nach. »Und das war alles?«
»Ja. Es war leicht verdientes Geld.«
»Das Ihr bekamt, nachdem Ihr die Äbtissin und ihre Gemeinschaft belogen hattet«, betonte Fidelma. »Hattet Ihr den jungen Mann schon mal gesehen?«
»Nein. Nur einmal, als er über Nacht blieb und auf die Frau wartete.«
»Er blieb eine Nacht? Und wartete auf eine Frau?«
»Sie sollte ihn hier auf meinem Hof treffen, tauchte aber nicht auf. Am nächsten Morgen ritt er davon, kehrte jedoch tags darauf wieder zurück und gab mir diesen Auftrag.«
»Könnt Ihr den Mann beschreiben?«
»Nicht nur das. Er hatte Diener bei sich, und ich hörte, wie einer seiner Männer ihn rief. Es war der werte Torcan.«
Zwei Tage später, als die Schwestern der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen gerade aus dem Refektorium strömten, wo sie ihre Morgenmahlzeit eingenommen hatten, segelte ein zweites Kriegsschiff in die Bucht und bezog zwischen Ross’ barc, dem gallischen Handelsschiff und dem Kriegsschiff der Loigde Position. Auch an seinen Masten wehten die Banner der Loigde und des Königs von Cashel.
Fidelma und Eadulf folgten Äbtissin Draigen, Bec-can und Ross hinunter zum Anlegesteg und sahen, wie sich ein Boot von dem gerade eingelaufenen Schiff löste. Ein junger, muskulöser Matrose legte sich in die Riemen, und im Heck saß ein in sein Habit gehüllter Mönch ganz unpassend neben einem hageren Krieger. Als das Boot am Kai festmachte, sprang der behende Krieger als erster an Land, während der Matrose dem Mönch beim Aussteigen behilflich sein mußte.
Der Krieger trat auf Beccan zu, den er ganz offensichtlich kannte, und salutierte vor ihm.
»Das ist Mail vom Stamm der Loigde«, stellte Beccan ihn vor. Dann wartete er, bis sein Begleiter, ein junger Mönch mit unschuldigem, rosigem Gesicht, sich zu ihnen gesellte und sie alle mit einer ausladenden Geste begrüßte. Der Mönch hatte ein angenehmes Äußeres und trotz der geröteten Wangen und der weichen, kindlichen Züge eine gebieterische Ausstrahlung.
»Ich bin Bruder Cillin von Mullach«, verkündete er.
Mail, der Krieger, erachtete eine weitere Vorstellung für notwendig.
»Bruder Cillin war uns unlängst in Ros Ailithir sehr nützlich. Abt Broce und Bran Finn haben ihn hierhergeschickt, als sie von der bedenklichen Lage der Dinge erfuhren.«
Bruder Cillin musterte sie ernst.
»Man hat mir die Aufsicht über alle Nonnen und Mönche auf dieser Halbinsel übertragen.«