Äbtissin Draigen stieß ein hörbares Keuchen hervor, das Cillin keineswegs entging. Lächelnd warf er einen Blick in ihre Richtung.
»Abt Broce hat mich außerdem beauftragt, die Gemeinschaft neu zu organisieren und sie wieder auf den Weg des Glaubens und des Gehorsams gegenüber ihren rechtmäßigen Führern zu bringen. Ich werde allerdings nur ein, zwei Tage hierbleiben und mich dann nach Norden aufmachen, in Gulbans Hauptstadt.«
Fidelma entnahm Äbtissin Draigens Gesichtsausdruck, daß Cillin ihr alles andere als willkommen war.
»Bruder Cillin«, begrüßte Fidelma den Mönch, trat auf ihn zu und machte ihn mit den Anwesenden bekannt. »Bringt Ihr Neuigkeiten aus Ros Ailithir?«
»O Ja, Schwester. Die bringe ich wahrhaftig. Eoga-nan und seine Aufständischen haben ihren Plan in die Tat umgesetzt. Habt Ihr etwa noch nichts davon gehört?«
Angst schnürte Fidelma die Kehle zu.
»Hat sich Eoganan tatsächlich gegen Cashel erhoben? Was gibts es Neues von meinem Bruder Colgu?« Sie versuchte, sich ihre Angst beim Sprechen nicht anmerken zu lassen.
»Macht Euch keine Sorgen«, erwiderte Mail, der Krieger, sofort. »Colgu ist in Sicherheit. Der Aufstand ist vorüber. Eigentlich war er vorbei, noch bevor er begonnen hatte.«
»Wißt Ihr nähere Einzelheiten?« fragte Beccan. Fidelma brachte vor Erleichterung kein Wort heraus.
»Allem Anschein nach hat Colgu seine Krieger ausgeschickt, um gegen Eoganan und die Ui Fidgenti vorzugehen, bevor diese ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatten. Der Aufstand sollte eigentlich erst im Frühjahr stattfinden, sobald der Boden fest genug wäre, um die Vernichtungsvorrichtungen aus Franken, die Gulban hat kommen lassen, transportieren zu können. Der Stamm der Arada führte Colgus Angriff direkt in das Gebiet der Ui Fidgenti.«
»Weiter«, drängte Fidelma. Sie wußte, daß das Land der Arada Cliach westlich von Cashel lag, genau zwischen der alten Hauptstadt und dem Gebiet der Ui Fidgenti. Die Arada waren für ihre Reitkunst bekannt und in früheren Zeiten als Streitwagenlenker in ganz Irland berühmt.
Mail redete weiter - offenbar gefiel ihm seine Rolle als Überbringer von Neuigkeiten.
»Eoganan erkannte, daß er nicht auf Gulbans Hilfe warten konnte, sondern die Männer seines Stammes zusammentrommeln mußte, um sich zu verteidigen. Die beiden Streitmächte trafen am Fuß des Hügels von Ame aufeinander.«
Fidelma kannte den Hügel von Ame von ihren Reisen. Es war ein niedriger, einzeln stehender Berg, von dessen Gipfel aus eine alte Bergfestung die umliegende Ebene beherrschte. Es hieß, dort stehe auch der Thron der Göttin, deren Namen er trug.
»Es gab nur wenige Tote ...«
»Deo gratias!« warf Beccan ein.
»Die Arada und Cashel gingen als Sieger aus der Schlacht hervor. Die Ui Fidgenti flohen vom Schlachtfeld und ließen - neben anderen toten Aufständischen
- Eoganan, ihren Prinzen und selbsternannten König, zurück. Cashel droht jetzt keine Gefahr mehr, und Euer Bruder ist wohlauf.«
Fidelma stand lange mit gesenktem Kopf da und schwieg.
»Und welche Neuigkeiten habt Ihr von Gulban und seinen fränkischen Söldnern?« wollte Eadulf wissen.
Dieses Mal war es Cillin, der junge Mönch, der auf die Frage antwortete.
»Eines unserer Kriegsschiffe ist schon vor Tagen von Ross alarmiert worden und segelte unverzüglich zu Gulbans Kupferminen - gerade rechtzeitig, denn Gul-ban befehligte höchstpersönlich den Abtransport seiner verfluchten, unglückseligen Vernichtungsvorrichtungen. Wie heißen sie doch gleich? Tormenta? Die Krieger der Loigde griffen an, bevor Gulban eine Verteidigung organisieren konnte, und die tormenta wurden ausnahmslos verbrannt und zerstört. Die Franken - das heißt, die, die dabei nicht den Tod fanden - wurden gefangengenommen. Alle gallischen und sonstigen Gefangenen, auf die man dort stieß, sind inzwischen freigelassen.«
»Und wann war das?« fagte Fidelma.
»Vor vier Tagen«, erwiderte Mail mit gerunzelter Stirn. »Warum ist es Euch so wichtig, die genauen Daten zu erfahren? Schreibt Ihr etwa eine Chronik, Schwester?«
»Eine Chronik?« Fidelma war darüber so erheitert, daß sie laut lachte, und die anderen starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ach, mein Freund, Ihr seid der Wahrheit näher, als Ihr denkt. Vor vier Tagen?« Fidelma wirkte zufrieden. »Dann, Beccan«, wandte sie sich an den betagten Richter, »brauchen wir meiner Ansicht nach nicht länger zu warten. Ich bin in der Lage, den Fall darzulegen und zu beweisen, wer die schrecklichen Morde in der Abtei begangen hat, sobald Ihr das wünscht.«
»Was?« stieß Äbtissin Draigen hervor. »Die Angelegenheit ist doch längst geklärt, oder nicht? Der Sohn von Eoganan, Torcan von den Ui Fidgenti, ist der Mörder. Beccan ist einfach nur gleichzeitig ...«
»Ist denn Torcan, der Sohn von Eoganan, hier?« unterbrach Mail die Äbtissin mit eifriger Miene. »Ich habe Befehl, ihn nach Cashel zu bringen. Er ist unverzüglich gefangenzunehmen - wegen Beteiligung an der Verschwörung seines Vaters.«
»Er ist tot«, erklärte Fidelma. »Adnar, der hiesige Häuptling, hat Torcan getötet, als dieser mich umbringen wollte. Olcan, der Sohn von Gulban, hält sich ebenfalls hier auf und wurde von Adnar wegen seiner Verstrickung in den Aufstand gefangengenommen.«
»Ich verstehe.« Damit meinte Mail zweifellos, daß er nun überhaupt nichts mehr verstand.
»Ihr werdet noch verstehen«, bemerkte Fidelma mit einem Lächeln. »Zumindest hoffe ich das, wenn ich Beccan den Fall vortrage. Ich bin jetzt so weit.«
»Sehr schön«, willigte der Richter ein. »Heute nach-mittag tritt das Gericht in der Abtei zusammen. Gebt mir eine Liste mit all denen, deren Anwesenheit Ihr wünscht, Schwester, und wir werden ihr Erscheinen sicherstellen.«
Kapitel 19
Beccan entschied, daß die Vorverhandlung in der duirthech, der hölzernen Kapelle der Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen, stattfinden sollte. Man hatte den kunstvoll geschnitzten Eichenstuhl der Äbtissin vor den Altar gestellt, direkt vor das hohe goldene Kreuz. Hier war Beccans Platz. Auf einem Hocker rechts von ihm saß sein persönlicher Schreiber, der die Tatsachen und Beweise, die Fidelma vortrug, zu protokollieren hatte. Fidelma selbst saß mit Eadulf in der vordersten Bankreihe rechts des Ganges. Hinter ihnen hatten Ross und Bruder Cillin von Mullach als Zuhörer Platz genommen, und dahinter wiederum Adnar und Bruder Febal. Daneben hockte der alte Bauer, Barr, der von Fidelma in die Abtei bestellt worden war. Eine Reihe weiter hinten hatte, flankiert von zwei Kriegern der Loigde, der Gefangene Olcan Platz gefunden.
Auf den Bänken auf der anderen Seite des Ganges saßen neben der selbstzufriedenen Äbtissin Draigen Schwester Lerben und Schwester Comnat und hinter ihnen Schwester Bronach und die schüchterne Schwester Berrach. Die hinteren Bankreihen waren vollbesetzt, dort drängten sich all jene Mitglieder der Ge-meinschaft, denen es gelungen war, in die Kapelle hineinzukommen. Am Eingang hatte sich Mail mit zwei Kriegern postiert.
In der duirthech brannten Laternen, deren flak-kerndes Licht von dem goldenen Altarkreuz und den zahlreichen Ikonen und Kunstwerken an den Wänden zurückgeworfen wurde. Die Laternen sorgten nicht nur für Licht, sondern strahlten auch so viel Hitze ab, daß es trotz der kalten Witterung draußen nicht nötig gewesen war, ein Feuer im Kohlenbecken anzuzünden.
Beccan eröffnete die Vorverhandlung und verkündete, daß er hier zu Gericht sitze, um zu hören, welche Beweise Fidelma in ihrer Eigenschaft als ddlaigh der Gerichtsbarkeit im Zusammenhang mit den Morden an zwei Schwestern der Gemeinschaft gesammelt hatte. Anhand der von ihr vorgetragenen Beweise werde er dann beurteilen, ob gegen den oder die von ihr Beschuldigten Anklage zu erheben sei. Wenn Ja, würde man zu einem späteren Zeitpunkt die Gerichtsverhandlung in Cashel abhalten und die Angeklagten dorthin überstellen.