Nach Abschluß der Formalitäten übergab Beccan Fidelma das Wort.
Sie erhob sich und sprach, wie es Brauch war, die Formel »Pace tua«, »mit Eurer Erlaubnis«. Dann schwieg sie eine Weile mit gefalteten Händen und gesenktem Blick, als betrachte sie den Fußboden, und ordnete ihre Gedanken.
»Selten habe ich an einem Ort so viel Elend vorgefunden wie in dieser Abtei.« Fidelmas Eröffnungsworte hallten laut und deutlich von den Wänden der Kapelle wider und lösten bei den Schwestern in den hinteren Bankreihen Unruhe aus.
»Dieser Ort ist durchdrungen von Haß, und das ist unvereinbar mit den Prinzipien eines Klosters, das sich der Lehre Christi verschrieben hat. Was ich in dieser Gemeinschaft vorgefunden habe, bestätigt voll und ganz die Richtigkeit der Worte des 55. Psalms: Ihr Mund ist glätter denn Butter, / und haben doch Krieg im Sinn; ihre Worte sind gelinder denn Öl / und sind doch bloße Schwerter.«
Äbtissin Draigen machte Anstalten, etwas zu sagen, doch Brehon Beccan bedeutete ihr mit einer energischen Geste zu schweigen.
»Wir sitzen jetzt hier in einem Gerichtshof und nicht in einer Kapelle, und hier entscheide ich, wer das Wort ergreifen darf«, belehrte er sie. »Die ddlaigh ist noch bei ihren einführenden Bemerkungen. Einwände gegen ihre Darstellung sind zu gegebener Zeit zulässig, worauf ich Euch noch hinweisen werde.«
Fidelma nahm den Faden wieder auf, als sei sie nicht unterbrochen worden.
»Äbtissin Draigen wandte sich an ihren kirchlichen Vorgesetzten, Abt Broce von Ros Ailithir, und bat um die Entsendung eines ddlaigh. Im Hauptbrunnen der Abtei hatte man einen Leichnam ohne Kopf entdeckt. Man fand bei der Leiche gewisse Dinge, denen besondere Bedeutung zukam: in der rechten Hand hielt sie ein Kruzifix, und an den linken Arm war ein Espenholzstab gebunden mit einer Inschrift in Ogham, mit anderen Worten, ein fé, eine Meßlatte für Gräber. Die Ogham-Inschrift bezog sich auf Morrigan, die heidnische Göttin des Todes und der Kriege. Wie ich von Schwester Bronach erfuhr, kennzeichnet man mit diesem Symbol Mörder oder Selbstmörder.
Wenige Tage später wurde die Verwalterin der Abtei, Schwester Siomha, in gleicherweise enthauptet und mit den gleichen Symbolen versehen aufgefunden. Schon zu Beginn meiner Untersuchungen wurde mir mitgeteilt, daß die einzige Person, die ein Tatmotiv haben könnte, Äbtissin Draigen sei. Man erzählte mir, ihre Vorliebe für Novizinnen sei allgemein bekannt .«
Diesmal sprang Draigen auf und begann lautstark zu protestieren, doch Beccans strenger Tonfall brachte sie zum Schweigen.
»Ich sagte bereits, daß Ihr später Gelegenheit haben werdet, etwas zu entgegnen. Unterlaßt fortan weitere Unterbrechungen. Andernfalls steht es in meinem Ermessen, wegen Mißachtung des Gerichtes eine Geldstrafe gegen Euch zu verhängen.«
Entrüstet setzte sich Äbtissin Draigen wieder auf ihren Platz, und Fidelma ergriff mit einer gebieterischen Handbewegung erneut das Wort. »Es waren viele Geschichten in Umlauf, die meist aus Gehässigkeit oder, wie ich herausfand, aus anderen finsteren Motiven erfunden wurden. Hätte sich Draigen eines solchen Verbrechens schuldig gemacht, so hätte sie wohl kaum Abt Broce gebeten, einen ddlaigh zu entsenden, um den Mordfall aufzuklären. Andererseits stellte sich heraus, daß die Äbtissin die Bußvorschriften Roms unseren weltlichen Gesetzen vorzieht. Dieser Widerspruch beschäftigte mich von Anfang an, bis ich begriff, daß die Lösung ganz einfach war und Draigen selbst ganz offen dazu stand: sie hatte Broce nur deshalb um die Entsendung eines ddlaigh gebeten, weil sie verhindern wollte, daß ihr Bruder Adnar, der örtliche Friedensrichter, kraft seines Amtes Vollmachten in der Abtei erhielt.«
Die Äbtissin warf Fidelma einen finsteren Blick zu, enthielt sich jedoch jeden Kommentars. Die ddlaigh fuhr fort.
»Meine Ermittlungen konzentrierten sich zunächst darauf, die Identität der ersten Toten festzustellen. Es handelte sich um den Leichnam eines jungen Mädchens, dessen Daumen, Zeigefinger und kleiner Finger eine blaue Färbung aufwiesen - ein typisches Merkmal bei jemandem, der sich mit der Kunst des Schreibens beschäftigt. Als ich erfuhr, daß zwei Schwestern aus der Abtei, Schwester Comnat, die Bibliothekarin, und Schwester Almu, ihre junge Gehilfin, vermißt wurden, vermutete ich sofort, die letztere könnte die Tote sein. Die beiden waren drei Wochen zuvor zu einem Kloster in Ard Fhearta aufgebrochen und noch nicht zurückgekehrt. Kurz und gut, mein Verdacht erwies sich als zutreffend: Es handelte sich tatsächlich um Almus Leichnam.
Nachdem die Identität der Toten geklärt war, mußte die nächste Frage lauten: Welches Motiv gab es für den Mord? Warum und wie war Schwester Almu in die Abtei zurückgekehrt? Warum hatte man ihr, nachdem sie ermordet wurde, den Kopf ab geschnitten? Und was hatten die heidnischen Symbole zu bedeuten? Am Körper der Toten fand ich drei weitere Hinweise: Sie war vor ihrem Tod in Ketten gelegt worden, man hatte sie offensichtlich mißhandelt, und an ihren Füßen sowie unter den Fingernägeln entdeckte ich rotbraunen Schlamm. Schwester Bronach erklärte mir, dieser Schlamm sei typisch für die kupferreiche Gegend hier. Nicht wahr, Schwester Bronach?«
Die Schwester mit der mürrischen Miene erhob sich von ihrem Sitz, nickte zur Bestätigung und nahm wieder Platz.
»Noch rätselhafter und verwirrender war der Mord an Schwester Siomha. Ihr Leichnam wurde im Turm gefunden, ebenfalls enthauptet und mit den gleichen Symbolen versehen. Diesmal war die Tote nicht entkleidet. Der Mörder wußte, daß wir sie erkennen würden, und vielleicht wollte er das Ja auch. Wozu die Symbole? Wozu das Abschneiden der Köpfe? Was mich jedoch am meisten beschäftigte, war die Tatsache, daß sich unter ihren Fingernägeln der gleiche rötlich-braune Schlamm befand. Wenige Stunden zuvor, als ich Schwester Siomha zum letzten Mal lebend gesehen hatte, war er noch nicht dort gewesen.
Auf der Treppe, die aus dem Turm in den subterraneus hinunterführt, fand ich Spuren von Blut - Siom-has Blut. Ihr Mörder hatte ihr oben im Turm den Kopf abgeschnitten und ihn nach unten in die Höhle gebracht. Warum?
War hier ein Wahnsinniger am Werk? War das Tatmotiv Haß - Haß auf die Schwestern, die Abtei, die Äbtissin? Bruder Febal verspürt mit Sicherheit Haß auf das alles, besonders auf Äbtissin Draigen, seine frühere Ehefrau. Er war es auch, der mich davon zu überzeugen suchte, daß Draigen widernatürliche Beziehungen zu Novizinnen unterhielt. Febal trägt mehr als genug Haß in sich, um ihn zu so schrecklichen Morden zu treiben.«
Fidelma blickte über die Schulter zu Bruder Febal, der sie mit einem feindseligen Ausdruck auf seinem anziehenden Gesicht anstarrte.
»Febals Anschuldigungen gegen Draigen waren frei erfunden.«
Zum ersten Mal zeigte sich eine Spur von Genugtuung auf Äbtissin Draigens Miene.
»Aber«, fuhr Fidelma nach kurzer Pause fort, »gibt es denn einen heimtückischeren Plan als den von Bruder Febal?«
Beccan räusperte sich.
»Seid Ihr zu irgendeinem Schluß gekommen?«
Fidelma hob den Kopf und antwortete: »Ja. Ich vertraue darauf, daß Ihr mich gewähren laßt und Euch geduldig die ganze Geschichte anhört, denn um zur Wahrheit über diese Morde vorzudringen, muß man unbedingt die Zusammenhänge kennen. Alles, was ich behaupte, kann ich inzwischen auch beweisen.«
»Dann fahrt fort, Schwester.«
»In den Chroniken wird berichtet, daß vor vierhundert Jahren in dieser Gegend ein sagenhaftes gol-denes Kalb aufgestellt und angebetet wurde. Cormac Mac Art, der damalige Oberkönig, weigerte sich jedoch, sich an dessen Anbetung zu beteiligen. In der Geschichte heißt es weiter, der Priester des goldenen Kalbes sei darüber so erbost gewesen, daß er ihn ermordete: er sorgte dafür, daß drei Gräten eines Lachses in Cormacs Hals steckenblieben und er daran erstickte. Hier begegnen wir wieder der Symbolik. Drei Lachsgräten. Sie waren lediglich ein Erkennungszeichen.