Выбрать главу

Kurz bevor Schwester Comnat und Schwester Al-mu nach Ard Fhearta aufbrachen, erschien hier in der Abtei ein Mann mit einem Buch, einer Abschrift von Cormacs Teagasg Ri, dem Handbuch des Königs. Der Mann war in Not geraten und wollte das Buch gegen Lebensmittel eintauschen. Wahrscheinlich kannte er nicht einmal seinen Inhalt. Er brachte es zur Äbtissin, die wiederum Schwester Comnat, die Bibliothekarin, zu Rate zog. Schwester Comnat hielt das Tauschgeschäft für lohnend, vor allem, da ihr aufgefallen war, daß das Buch am Ende noch eine Kurzbiographie von Cormac enthielt. Dann bat sie Schwester Almu, ihre Gehilfin, die Neuerwerbung durchzusehen und in den Bestand einzuordnen.

Das tat Schwester Almu auch. Stellt Euch ihre Aufregung vor, als sie unverhofft eine Fortsetzung der Geschichte vom goldenen Kalb in Händen hielt. Glaubte man diesem Text, dann hatte das sagenhafte Wesen aus massivem Gold tatsächlich existiert. Und was noch weitaus spannender war: der Priester, der dem Kult des goldenen Kalbes gehuldigt hatte, stammte genau aus dieser Gegend. Wahrhaftig, ist nicht das Symbol der Göttin, die man die Alte von Beara nennt, eine Kuh? Heißt nicht Adnars Festung Dun Boi, die Festung der Kuhgöttin? Und das Junge der Kuh ist das Kalb.«

»Wir haben diese alte Volkssage schon oft genug gehört!« unterbrach Äbtissin Draigen voller Ungeduld. »Wann kommen wir endlich zum Kern der Geschichte?«

Beccan ärgerte sich über ihre ständigen Einwürfe.

»Ich habe Euch gewarnt, Mutter Oberin. Ich dulde keine Zwischenrufe. Eine Geldstrafe von einem sét wegen Unterbrechung des Gerichts. Auch ich finde jedoch, Schwester Fidelma, daß Eure Erzählweise immer weitschweifiger wird. Was hat das alles mit den beiden Morden zu tun?«

»Die Symbolik der drei Lachsgräten!« erwiderte Fidelma. »Wir wissen, daß die Stelle, an der heute die Abtei steht, früher eine heidnische Kultstätte war. Wir wissen auch, daß man die Abtei heute Der Lachs aus den Drei Quellen nennt. Das ist nicht nur eine Umschreibung für Christus, sondern auch ein Hinweis auf die heidnische Vergangenheit. Das sagenhafte goldene Kalb war genau hier versteckt, in den Höhlen unterhalb des Klosters. Die meisten kennen sicher das primitive Bildnis eines Kalbes, das in die Wand des unterirdischen Vorratsraumes eingemeißelt ist. Eine ähnliche Abbildung befindet sich in der Nachbarhöhle.«

Unter den Schwestern erhob sich aufgeregtes Murmeln.

»Schwester Almu las den Text - und verstand sofort. In der Geschichte wird überliefert, daß die Priester des goldenen Kalbes den Namen Dedelchu trugen

- Wachhund des Kalbes -und hier völlig abgeschieden lebten. Dann kam Necht, die Reine, um das Land zum Christentum zu bekehren. Es gelang ihr, die heidnischen Priester zu vertreiben. Dem Text zufolge war das goldene Kalb seit damals, seit über hundert Jahren, seit Necht, die Reine, die Heiden verjagte und diese Gemeinschaft gründete, unter der Abtei versteckt und wahrscheinlich längst vergessen - abgesehen von dieser einen Erwähnung in einem Buch über die Gegend. Stellt Euch vor, wie aufgeregt Almu reagiert haben muß, ganz besonders, wenn man an das Vermögen denkt, das eine so sagenhafte Statue einbringen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes, sie war ihr Gewicht in Gold wert, denn der Überlieferung zufolge bestand sie Ja aus reinem Gold.«

»Könnt Ihr das beweisen?« fragte Beccan.

Fidelma wandte sich zu Eadulf um, der ihr die zwei verschmutzten Pergamentseiten reichte.

»Auf diesen beiden Blättern steht Cormacs Biographie. Sie wurden erst kürzlich aus dem Buch herausgetrennt. Ich habe sie bei Torcans Leichnam gefunden.«

»Fahrt fort«, brummte Beccan und warf einen Blick darauf.

»Ich fand heraus, daß Schwester Almu eng mit Schwester Siomha befreundet war. Sehr eng. Also war Siomha natürlich die erste, der sie von ihrer Entdek-kung berichten würde. Aus diesem Gespräch heraus entwickelte sich bei den beiden der Wunsch, das goldene Kalb zu finden und in ihren Besitz zu bringen. Eines haben all die traurigen Ereignisse in dieser Abtei gemeinsam: das Tatmotiv Habgier. Hat nicht Lukan, der Dichter, gesagt, Habgier sei ein verfluchtes Laster, und für eine genügend große Menge Gold würde jeder - auch wenn er am Verhungern wäre - seine letzten Nahrungsmittel eintauschen, nur um das Gold zu besitzen? Im vorliegenden Fall war es Schwester Siomha, die dem Verhungern nahe war, allerdings eher auf moralischer und geistlicher Ebene.

Schwester Siomha war so überaus habgierig, daß sie sogar ihre Freundin betrog. Sie überredete sie, niemandem von der Geschichte zu erzählen - vielleicht vereinbarten sie, die Sache nach Almus Rückkehr aus Ard Fhearta weiter zu verfolgen. Sobald Schwester Almu abgereist war, zog Siomha einen Dritten ins Vertrauen und erzählte ihm alles. Anhand der Angaben auf den herausgetrennten Seiten des Buches entdeckten Siomha und ihr Komplize die Höhle, in der das sagenumwobene goldene Kalb ihrer Meinung nach versteckt sein mußte, aber ihr Eingang, der sich im subterraneas der Abtei befand, war mit Steinen und Erde zugeschüttet.

Siomha mußte ihrem Komplizen Zeit und Gelegenheit verschaffen, damit er den Zugang zu der vermeintlichen Schatzhöhle freischaufeln konnte. Deshalb übernahm sie freiwillig so viele Nachtwachen wie möglich im Turm der Abtei. Nur eine Person hörte die klopfenden Geräusche, die beim Freilegen des Durchgangs entstanden, und das war Schwester Ber-rach. Schwester Berrach, eine intelligente junge Frau, die sich aufgrund von Vorurteilen verstellen und die Schwachsinnige spielen mußte, hatte die Angewohnheit entwickelt, sich jeden Morgen, lange vor Sonnenaufgang, heimlich in die Bibliothek zu stehlen, um dort zu lesen - sie wollte ihren Mitschwestern gegenüber nicht offenbaren, wie klug sie in Wirklichkeit war. Doch selbst Schwester Berrach hielt das Dröhnen lediglich für ein Echo der Geräusche, die häufig aus der geheimnisvollen Höhle unter der Abtei zu vernehmen waren. Das Dröhnen entsteht übrigens durch zwei alte Holzfässer, die in einem unterirdischen Wasserbecken, das sich in der Höhle befindet, umhertreiben und vom Meerwasser aus der Bucht, das die Höhle hin und wieder überflutet, in Bewegung versetzt werden. Was diese Vermutung betrifft, hatte Äbtissin Draigen durchaus recht.«

Fidelma legte eine kurze Pause ein, da sie merkte, daß Beccans Schreiber Schwierigkeiten hatte, mitzukommen.

»Schwester Siomhas Komplize hatte gerade den Durchbruch zu der zweiten Höhle gegraben, als eine unvorhergesehene Komplikation eintrat: Schwester Almu kehrte unerwartet in die Abtei zurück. Das Schicksal hatte eine schreckliche Wendung genommen. Schwester Comnat und Schwester Almu gerieten in Gefangenschaft, weil sie heraus gefunden hatten, daß eine Verschwörung im Gange war und daß Gul-ban, der Häuptling der Beara, gemeinsam mit den Ui Fidgenti einen Aufstand gegen Cashel plante. Die beiden Ketten von Ereignissen hatten übrigens ursprünglich nicht das Geringste miteinander zu tun.

Schwester Almu versuchte zu fliehen, wurde jedoch wieder eingefangen und zur Strafe ausgepeitscht. Sie wußte, daß sie kaum eine Chance hatte, aus dem Gebiet in der Nähe der Kupferminen zu entkommen - es sei denn, jemand würde ihr helfen. Nun weilte in der Ortschaft, wo man die Schwestern gefangenhielt, ein junger Prinz der Ui Fidgenti. Schwester Almu begann, sich bei dem jungen Mann einzuschmeicheln. Ich habe Almu zwar nicht gekannt, doch muß sie meiner Meinung nach eine ausgezeichnete Menschenkennerin gewesen sein. Sie begriff, daß Habgier eine der wichtigsten Triebfedern im Denken des Prinzen war. Also erzählte sie ihm die Geschichte vom goldenen Kalb und versprach ihm, das Geheimnis der Statue niemandem sonst zu verraten. Sie konnte Ja nicht wissen, daß ihre Freundin ihr Vertrauen schon längst mißbraucht hatte.«