»Ich wollte nicht, daß Ihr abreist, bevor ich mit Euch reden konnte«, begann Schwester Bronach zögernd. »Ich wollte Euch danken ...«
»Es gibt nichts, wofür Ihr mir danken müßtet«, protestierte Fidelma.
»Außerdem wollte ich mich entschuldigen«, fuhr die Nonne mit der ernsten Miene fort. »Ich dachte, irgendwie hättet Ihr mich im Verdacht .«
»Es gehört zu meinem Beruf, jeden zu verdächtigen, Schwester, aber heißt es nicht: Vincit omnia veritas - Die Wahrheit besiegt alles?« antwortete sie.
Schwester Berrach schnaubte verächtlich und deutete hinüber zu den Gebäuden der Abtei.
»Solltet Ihr als Schlußwort nicht besser den Ausspruch des römischen Dichters Terenz wählen - veritas odium parit. «
Fidelmas Augen blitzten auf.
»Wahrheit zeugt Haß?« Sie warf einen Blick in Richtung Abtei. Dort war die Äbtissin in eine hitzige Debatte mit Bruder Cillin vertieft. »O Ja. Ich fürchte, das liegt in der Natur der Sache: Viele Menschen ver-suchen, die Wahrheit voreinander zu verbergen, doch der weitaus schlimmere Haß entsteht, wenn jemand die Wahrheit vor sich selbst nicht mehr zugibt.«
Schwester Berrach beugte den Kopf. Das war ihre Art, Fidelmas Weisheit anzuerkennen.
»Ich möchte Euch danken, Fidelma. Wäret Ihr nicht gewesen, hätte man mich zu Unrecht beschuldigt und aus purer Voreingenommenheit verurteilt.«
»Heraklit sagte, daß Hunde die Menschen anbellen, die sie nicht kennen. In der Tat, Vorurteile entstehen aus Unwissen. Oft hassen die Menschen einander, weil sie sich nicht kennen. Ich kann Euch keinen Vorwurf daraus machen, aber Ihr habt selbst zu diesem Unwissen beigetragen, indem Ihr die Rolle, die die anderen Euch zugedacht hatten, brav gespielt habt, anstatt unerschütterlich Ihr selbst zu bleiben. Ihr gabt vor, einfältig zu sein, zu stottern und weder lesen noch schreiben zu können, und habt Euch nur in den wenigen Stunden, da niemand Euch beobachten konnte, den Büchern gewidmet.«
»Wir können Vorurteile nicht ausmerzen«, verteidigte sich Schwester Berrach.
»Wissen ist das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Schwester Comnat wird sich nach einer neuen Bibliotheksgehilfin umsehen. Wenn sie von Eurer Beschlagenheit wüßte, Schwester Berrach, würde sie Euch diesen Posten mit Sicherheit anbieten.«
Berrach antwortete mit einem breiten Lächeln.
»Dann will ich dafür sorgen, daß sie davon erfährt.«
Fidelma nickte und sagte dann mit einem Blick auf Bronach leise: »Eure Mutter kann stolz darauf sein, eine solche Tochter zu haben, Schwester Berrach.«
Über Schwester Bronachs ernste Miene huschte ein Ausdruck ehrfürchtigen Staunens.
»Ihr wißt sogar das?«
»Wenn Ihr Eure Mütterlichkeit nicht schon durch Eure Art, in Berrachs Nähe zu bleiben und ihr beizustehen, bewiesen hättet, dann wäre ich spätestens durch die Geschichten, die Ihr beide mir erzählt habt, darauf gekommen. Ihr spracht davon, daß Suanach Eure Mutter war und daß Ihr dieser Gemeinschaft beigetreten seid, während Suanach weiterhin den alten Traditionen anhing. Ihr seid in die Abtei gekommen, habt einen Mann kennengelernt und ein Kind bekommen. Doch Ihr konntet Euch hier nicht richtig um Eure Tochter kümmern und brachtet sie zu Eurer Mutter, die sie aufzog. Warum war es für Euch so schwierig, in dieser Gemeinschaft ein Kind zu erziehen? Weil das Kind eine körperliche Behinderung hatte und deshalb ständiger Fürsorge bedurfte.«
Schwester Bronach war blaß geworden, stand jedoch hocherhobenen Hauptes da.
»Das stimmt«, gab sie zu. »Erzählt mir bloß nicht noch mehr Wahrheiten.«
Berrach klammerte sich an den Arm ihrer Mutter.
»Ich weiß schon seit einiger Zeit Bescheid. Ihr habt recht, Schwester Fidelma. Mein Vater wollte meiner Mutter nicht helfen, mich zu versorgen. Nur meine Großmutter unterstützte uns, bis ich drei Jahre alt war. Sie hatte damals noch ein Kind in Pflege, ein älte-res Kind. Dieses Kind steckte voller Bosheit und Eifersucht und tötete meine Großmutter in einem Wutanfall, so daß ich gänzlich hilflos zurückblieb. Da beschloß Bronach, sich über die Wünsche meines Vaters hinwegzusetzen. Sie nahm mich mit in die Gemeinschaft und zog mich auf - trotz der Behinderung.«
Schwester Bronach verzog das Gesicht.
»Allerdings unter der Bedingung, daß ich niemals verraten würde, wer ihr Vater war. Ich habe mich an diese Bedingung gehalten. Wenn Berrach es wüßte, würde es ihr nicht gerade zur Freude gereichen.«
»Ich bin froh, nichts darüber zu wissen«, versicherte Berrach. »Das ist kein großer Verlust.«
»Es ist jedoch eine Ironie des Schicksals, daß das Kind, das meine Mutter tötete, ebenfalls in die Gemeinschaft eintreten durfte und schließlich unsere Äbtissin wurde.«
»Sie wird nicht mehr lange hier sein. Ebensowenig wie Schwester Lerben.«
Schwester Berrach umklammerte Fidelmas Hand.
»Aber Ihr erzählt unsere Geschichte doch nicht weiter?«
»Nein«, versicherte Fidelma dem Mädchen. »Was mich betrifft, ist Euer Geheimnis begraben und vergessen.«
Schwester Bronach wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln.
»Vielen Dank, Schwester.«
Fidelma nahm die Hände der beiden Frauen in die ihren.
»Sorgt in Zukunft ebensogut füreinander, Schwestern, wie in der Vergangenheit.«
Das Segel aus schwerer Leinwand fiel krachend am Mast herunter, bis es richtig hing. Ross beobachtete seine Männer mit kritischen Blicken, während sie hinaufkletterten und es ordnungsgemäß festzurrten. Ein scharfer, kalter Wind brauste über die Meerenge und trieb Schneeböen vor sich her. Der Himmel war fast schwarz, die Luft feucht und eisig kalt, doch Ross hatte keinerlei Bedenken, in See zu stechen, obwohl der Wellengang selbst in der Meerenge heftig war und die barc besorgniserregend auf dem Wasser schaukelte. Als die Segel schließlich gesetzt waren, nahm das Schiff, mit Odar am Steuer, rasch Fahrt auf.
Schwester Fidelma und Bruder Eadulf standen zusammen mit Ross auf dem Achterdeck. Die Nonne und der Mönch umklammerten die Reling, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und beneideten Ross uni die Leichtigkeit, mit der er neben dem Ruder stand und mit gespreizten Beinen jede Neigung des Schiffsdecks auszugleichen vermochte. Der stämmige Seemann drehte sich zu ihnen um, sah sie beinahe entschuldigend an und schrie gegen den tosenden Wind: »Es wird wohl eine Weile so unruhig bleiben, aber sobald wir das offene Meer erreichen, wird es besser.«
Fidelma grinste den besorgt dreinblickenden Eadulf an.
»Ich bin lieber auf See, als noch länger in der schrecklichen Atmosphäre dieser Abtei eingesperrt zu sein«, erwiderte sie. Dann wandte sich Ross anderen Aufgaben zu.
»Mir fällt es auch nicht sonderlich schwer, hier abzureisen«, gestand Eadulf. »Es war nicht gerade meine beste Zeit.«
Fidelma blickte mitfühlend zu ihm auf. Dann fiel ihr Blick auf das große gallische Handelsschiff, das noch immer in der Meerenge vor Anker lag und allmählich hinter ihnen verschwand.
»Es war wirklich eine großzügige Geste, daß Ross auf das Schiff, das ihm als Bergungsgut zustand, verzichtet und es der gallischen Besatzung zurückgegeben hat, damit sie sicher nach Hause fahren kann.«
»Schade, daß Waroc das nicht mehr erleben konnte. Er war ein tapferer Mann.«
»Was glaubt Ihr, wie lange werdet Ihr in Cashel bleiben?«
Fidelma wechselte unvermittelt das Thema.
»Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich, bis ich Nachricht von Theodor von Canterbury erhalte.«
»Ich selbst habe vor, eine Weile dort zu bleiben«, bemerkte Fidelma beiläufig. »Es ist schon lange her, seit mein Bruder und ich ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten.«