Fidelma hatte sich am Heck auf die Reling gesetzt, mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf, und hing ihren Gedanken nach, so daß sie weder die näherkommende Küste noch die atemberaubende Landschaft bemerkte. Genausowenig schien sie das Stampfen und Schlingern der barc zu beachten, die vor dem Wind trieb und ihre Beute hinter sich herschleppte.
»Bald erreichen wir ruhigere Gewässer«, sagte Ross besänftigend. Er hatte Mitleid mit ihr, denn sie vermochte den Kummer, den ihre Entdeckung ihr bereitete, kaum zu verhehlen.
»Könnten es Sklavenhändler gewesen sein?« fragte sie plötzlich, ohne Vorrede.
Ross überlegte einen Augenblick. Es war bekannt, daß Plünderer auf der Suche nach Sklaven häufig in irische Gewässer vordrangen und gelegentlich sogar Küstendörfer oder Fischerboote überfielen und die Einheimischen verschleppten, um sie auf den Sklavenmärkten in den sächsischen Königreichen zu verkaufen, manchmal sogar weiter weg in Iberien, Franken und Germanien.
»Vielleicht haben Sklavenhändler das Handelsschiff überfallen und alle Anwesenden mitgenommen?« hakte Fidelma nach, als er zögerte.
Ross schüttelte den Kopf.
»Mit Verlaub, Schwester, aber das glaube ich nicht. Wenn, wie Ihr meint, Sklavenhändler das Handelsschiff gekapert hätten, warum haben sie dann nicht einfach ein Prisenkommando an Bord gelassen, um es in ihren Heimathafen zurückzusegeln? Warum sollten sie die Besatzung und, was noch merkwürdiger ist, die Ladung mitnehmen und das Schiff zurücklassen? Sie würden dafür doch genausoviel, wenn nicht noch mehr Geld bekommen als für die Besatzung und die Ladung.«
Fidelma konnte dieser Logik nicht widersprechen. In der Tat, warum sollten sie das gepflegte, gut in Schuß gehaltene Schiff zurücklassen? Sie seufzte hörbar, da sie auf die vielen Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, nicht sofort Antworten fand.
Die junge Nonne bemühte sich, nicht noch mehr Energie darauf zu verschwenden, Fragen zu stellen, die sie unmöglich beantworten konnte. Ihr Mentor, Brehon Morann von Tara, hatte sie gelehrt, daß es nutzlos war, Antworten für Probleme zu suchen, bevor sie die Fragen kannte, die zu stellen waren. Doch es gelang ihr nicht, einen klaren Gedanken zu fassen, selbst dann nicht, als sie in der Kunst des dercad Zuflucht suchte, einer Art Meditation, die schon zahllosen Generationen von irischen Mystikern geholfen hatte, nebensächliche Überlegungen und nervliche Überreizung zu bezwingen.
Fidelma beschloß, sich auf die näherkommende Küstenlandschaft zu konzentrieren. Sie hatten jetzt die Einfahrt der großen Bucht erreicht und segelten nah am Südufer der bergigen Halbinsel entlang. Die kalten Windböen und unberechenbaren Wellen ebbten allmählich ab, während sie in die geschützteren Gewässer einfuhren. Als sie die knollenförmige Insel an ihrer Backbordseite liegen sahen, wurde das Meer wesentlich ruhiger, denn das Festland schützte sie nun vor der vollen Wucht des Windes. Nur wenige Wolken zeigten sich am zartblauen Himmel, in dem hoch oben die blaßgelbe Sonnenscheibe hing, ohne die geringste Wärme abzugeben. Die Landschaft schien in durchsichtigen Pastelltönen gemalt zu sein.
»Weiter vorne öffnet sich eine große Meerenge«, kündigte Ross an. »Dort liegt die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen. Dort, in den ruhigen Gewässern, werden wir vor Anker gehen.«
Trotz ihrer Sorge um Bruder Eadulfs Schicksal war Fidelma nicht ganz unempfänglich für die Ruhe und die heitere Schönheit der Meerenge. Sie war auf allen Seiten von Eichenwald umgeben, der sich an den Berghängen hinaufzog und von Nadelgehölzen der verschiedensten Art umsäumt war. Im Sommer mußte es hier atemberaubend aussehen: all die farbenprächtigen Blumen, all die Bäume in den unterschiedlichsten Grüntönen. An den Ufern der Durchfahrt erhoben sich die Berge. Ihre kahlen Gipfel waren mit Schnee bestäubt und ihre Abhänge mit Granitbrocken übersät. Ein tosender Bach ergoß sich in die Bucht, genau dort, wo sich auf einer Landzunge eine kleine, runde Festung erhob. Beim Anblick seines glitzernden, kristallklaren Wassers schauderte Fidelma schon allein bei der Vorstellung, wie kalt es sein mochte.
»Dort liegt die Festung von Adnar, dem bo-aire dieses Bezirks.« Ross deutete mit dem Daumen hinüber.
Ein bo-aire war, wörtlich verstanden, ein KuhHäuptling, ein Häuptling ohne Landbesitz, dessen Vermögen nach seinem Viehbestand bemessen wurde. In ärmeren Gegenden fungierte der Kuh-Häuptling auch als eine Art Friedensrichter. Er hatte den mächtigeren Häuptlingen gegenüber loyal zu sein und ihnen für seine Stellung und seinen Rang einen Tribut zu zahlen.
Fidelma versuchte mit aller Gewalt, ihre Gedanken zurück zu dem Auftrag zu lenken, dessentwegen sie aufgebrochen war.
»Die Festung von Adnar?« wiederholte sie und formulierte den Satz als Frage, um sicherzugehen, daß sie den Namen richtig verstanden hatte.
»Ja. Sie heißt Dun Boi - die Festung der Boi, der Göttin der Kühe.«
»Und wo liegt die Gemeinschaft der Gläubigen?« fragte Fidelma. »Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen?«
Ross deutete auf eine zweite kleine Landzunge am anderen Ufer des Flüßchens, genau gegenüber von Adnars Festung.
»Zwischen den Bäumen dort oben auf dem Bergrücken. Ihr könnt von hier aus nur den Turm des Klosters sehen und da hinten einen kleinen Kai, der zu einem Felsabsatz führt, auf dem ihr vielleicht den Hauptbrunnen der Abtei ausmachen könnt.«
Fidelmas Blick folgte seinen Angaben. Auf dem Kai bewegte sich etwas.
»Käpt’n!« rief der Steuermann leise zu Ross hinüber. »Käpt’n, dort legen gerade zwei Boote ab - eins von der Festung und eins von der Abtei.«
Ross befahl seiner Besatzung, mit dem Zusammenrollen der Segel zu beginnen, bevor die Foracha vor Anker ging. Er wandte sich um und bedeutete Odar auf dem gallischen Schiff, ebenfalls Anker zu werfen, damit die beiden Schiffe nicht zusammenstießen. Man hörte das Krachen der großen Segel, als sie niedergeholt wurden, das Klatschen, als die Anker auf die ruhige Wasseroberfläche aufschlugen, und die erschrockenen Schreie der Seevögel, die von der unerwarteten Heftigkeit des Geräusches überrascht wurden. Dann - Stille.
Einen Augenblick stand Fidelma reglos da und war sich der plötzlichen Stille in der geschützten Meerenge bewußt und auch der Schönheit dieses Ortes - mit den Blau-, Grün-, Braun- und Grautönen der Berge, die sich dahinter erhoben, mit dem Himmel, der das Wasser um sie herum hellblau färbte, so daß es im Licht des frühen Nachmittags glitzerte und schimmerte und einem Spiegel glich, so still und klar war seine Oberfläche. Am Ende der Meerenge, von den Gezeiten unberührt, erstreckten sich das Graugrün eines Seegrasgürtels, das Weiß und Grau der Felsen, die vielfältigen Grün- und Brauntöne der Bäume entlang des Ufers und dazwischen die Farbtupfer des plötzlich aufschießenden Kreuzkrauts und der weißen Blüten des Hirtentäschel. Hie und da wuchsen Stechpalmen. Die Stille verstärkte das leiseste Geräusch ... zum Beispiel den trägen Flügelschlag des Graureihers, der seine Kreise um die Schiffe zog und sich den langen, biegsamen Hals vor Neugier zu verrenken schien, bevor er sich lässig und scheinbar unbeteiligt gen Himmel schwang und weiter die Küste hinunter flog, ruhigeren Fischgründen entgegen. Dann hörte Fidelma auf dem stillen Gewässer die rhythmischen Ruderschläge der herangleitenden Boote.
Sie seufzte tief. Ein so vollkommener Friede war wie ein Deckmantel, eine Verschleierung der Realität. Es gab so viel zu tun.
»Ich werde an Bord des Handelsschiffes zurückkehren und es noch einmal gründlich durchsuchen, Ross«, verkündete sie.
Ross starrte sie erschrocken an.
»Bei allem Respekt, Schwester, ich würde damit lieber noch ein Weilchen warten«, schlug er vor.