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Die Tote in der Bibliothek

Meiner Freundin Nan

Vorwort

Zu bestimmten Arten von Prosaliteratur gehören bestimmte Klischees. Der «stolze, böse Baron» beispielsweise zum Kitschroman, die «Leiche in der Bibliothek» zum Kriminalroman. Mehrere Jahre trug ich mich mit dem Gedanken an eine angemessene «Variation über ein bekanntes Thema». Ich stellte mir dafür bestimmte Bedingungen. Die Bibliothek musste eine streng konventionelle Bibliothek sein, die Leiche dagegen eine ganz und gar ungewöhnliche, sensationelle Leiche. Das waren die Vorgaben, doch einige Jahre blieb es dabei, und das Projekt gelangte nicht über ein paar Zeilen in einem Schulheft hinaus. Dann aber verbrachte ich einmal einige Sommertage in einem mondänen Hotel am Meer und beobachtete dort an einem Tisch im Speisesaal eine Familie: ein älterer Mann im Rollstuhl, umgeben von einer Schar jüngerer Familienmitglieder. Am nächsten Tag reisten sie glücklicherweise ab, und meine Phantasie konnte sich unbelastet von jeglichem Wissen ans Werk machen.

Wenn ich gefragt werde, ob in meinen Büchern reale Personen vorkommen, lautet die Antwort: «Es ist mir völlig unmöglich, über Menschen zu schreiben, die ich kenne, mit denen ich einmal gesprochen oder von denen ich auch nur gehört habe!» Aus irgendeinem Grund wären sie damit für mich mausetot. Wohl aber kann ich eine «Marionette» nehmen und sie mit Eigenschaften und Phantasien eigener Erfindung ausstatten.

So wurde ein älterer Invalide zum Mittelpunkt der Geschichte, und Colonel Bantry und seine Frau, zwei alte Freunde meiner Miss Marple, hatten genau die richtige Bibliothek. Nach Art eines Kochrezepts gebe man folgende Zutaten hinzu: einen Tennistrainer, eine junge Tänzerin, einen Künstler, eine Pfadfinderin, eine Eintänzerin und noch einiges mehr. Und dann serviere man à la Miss Marple!

Agatha Christie

Erstes Kapitel

I

Mrs. Bantry träumte. Ihre Gartenwicken hatten bei der Blumenschau den ersten Preis gewonnen. Der Pfarrer, in vollem Ornat, verteilte die Preise in der Kirche. Seine Frau schritt im Badeanzug vorbei, doch wie es in Träumen wunderbarerweise so geht, nahm die Gemeinde keinen Anstoß daran, was sie im wirklichen Leben zweifellos getan hätte…

Mrs. Bantry genoss ihren Traum in vollen Zügen, wie meist bei diesen morgendlichen Träumen, die mit der Ankunft des Tees ihr Ende fanden. Noch halb im Unterbewusstsein nahm sie die üblichen Morgengeräusche des Hauses wahr. Im Treppenhaus rasselten die Vorhangringe, als das Dienstmädchen die Gardinen aufzog, auf dem Flur draußen klapperte das zweite Dienstmädchen mit Schaufel und Besen, und unten wurde mit Gepolter der Riegel an der Haustür zurückgeschoben.

Ein neuer Tag begann. Mrs. Bantry musste die Blumenschau noch nach Kräften auskosten, denn schon wurde deutlich, dass es nur ein Traum war…

Im Erdgeschoss wurden die großen hölzernen Fensterläden des Salons geöffnet. Mrs. Bantry hörte es, ohne es zu registrieren. Noch eine gute halbe Stunde würde es so weitergehen: diskrete, gedämpfte Geräusche, so vertraut, dass sie nicht weiter störten. Zum Schluss würden sich auf dem Flur schnelle, gleichmäßige Schritte nähern, ein Kattunkleid würde rascheln, ein leises Klirren würde zu vernehmen sein, wenn das Teetablett auf dem Tisch vor der Tür abgestellt wurde, dann ein sachtes Anklopfen. Und schließlich würde Mary eintreten und die Vorhänge öffnen.

Mrs. Bantry runzelte die Stirn. Etwas Störendes drang in ihren Traum ein, etwas, das nicht dazugehörte. Schritte im Flur, zu hastige, zu frühe Schritte. Unbewusst lauschte sie auf das Klirren des Teegeschirrs, aber da klirrte kein Geschirr.

Jetzt klopfte es. Aus den Tiefen des Traums rief Mrs. Bantry mechanisch: «Herein!» Die Tür ging auf – gleich würden rasselnd die Gardinen zurückgezogen werden.

Doch kein Rasseln ertönte. Aus dem grünen Dämmerlicht kam Marys Stimme, in höchster, atemloser Erregung: «Madam, Madam! In der Bibliothek liegt eine Tote!»

Das Mädchen brach in wildes Schluchzen aus und rannte aus dem Zimmer.

II

Mrs. Bantry setzte sich auf. Entweder hatte ihr Traum eine äußerst merkwürdige Wendung genommen oder aber – oder aber Mary war wirklich hereingestürzt und hatte gesagt – unfassbar! grotesk geradezu! –, dass in der Bibliothek eine Tote liege.

«Unmöglich», sagte Mrs. Bantry zu sich selbst. «Das muss ich geträumt haben.»

Doch noch während sie es sagte, wurde ihr klar, dass sie es keineswegs geträumt hatte, dass Mary, ihre vernünftige, überlegene Mary, diese absurden Worte wirklich ausgesprochen hatte.

Mrs. Bantry überlegte eine Weile und versetzte dann ihrem schlummernden Gatten einen dringlichen ehelichen Rippenstoß.

«Arthur, Arthur, wach auf!»

Colonel Bantry ächzte, murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite.

«Wach auf, Arthur! Hast du gehört, was Mary gesagt hat?»

«Durchaus möglich», nuschelte Colonel Bantry. «Ich bin ganz deiner Meinung, Dolly.» Und schon war er wieder eingeschlafen.

Mrs. Bantry rüttelte ihn.

«Nun hör doch! Mary sagt, in der Bibliothek liegt eine Tote!»

«Äh, was?»

«Eine Tote! In der Bibliothek!»

«Wer sagt das?»

«Mary.»

Colonel Bantry raffte seine fünf Sinne zusammen und begann sich mit der Lage zu befassen.

«Unsinn, altes Mädchen», sagte er. «Du hast geträumt.»

«Das dachte ich auch erst, aber ich habe nicht geträumt. Mary war hier im Zimmer und hat es wirklich gesagt.»

«Dass in der Bibliothek eine Tote liegt?»

«Ja.»

«Das kann nicht sein.»

«Nein – nein, eigentlich nicht», sagte Mrs. Bantry unsicher, doch dann straffte sie sich und fuhr fort:

«Aber warum sagt sie dann so etwas?»

«Sie kann es gar nicht gesagt haben.»

«Sie hat es aber gesagt.»

«Das bildest du dir ein.»

«Nein.»

Inzwischen war Colonel Bantry hellwach und bereit, den Dingen ins Auge zu sehen. Freundlich sagte er: «Du hast geträumt, Dolly, das ist alles. Das kommt von diesem Kriminalroman, den du neulich gelesen hast, Das Geheimnis des abgebrochenen Zündholzes, du weißt schon, wo Lord Edgbaston das schöne blonde Mädchen tot auf dem Kaminvorleger in der Bibliothek findet. Im Roman wird die Leiche immer in der Bibliothek gefunden. Im wirklichen Leben habe ich so etwas noch nie gehört.»

«Dann wirst du’s vielleicht jetzt hören. Auf jeden Fall musst du aufstehen und nachsehen, Arthur.»

«Aber das kann doch nur ein Traum gewesen sein, Dolly. Träume erscheinen beim Aufwachen oft noch so wunderbar real. Man ist sich dann ganz sicher, dass die Dinge wirklich passiert sind.»

«Ich habe aber etwas ganz anderes geträumt, von einer Blumenschau und von der Pfarrersfrau im Badeanzug – oder so ähnlich.»

Mit ungeahnter Energie sprang Mrs. Bantry plötzlich aus dem Bett und zog die Vorhänge auf. Das Licht eines schönen Herbsttages strömte ins Zimmer.

«Ich habe das nicht geträumt», erklärte sie entschieden. «Steh jetzt auf, Arthur, geh hinunter und sieh nach, was da los ist.»

«Ich soll hinuntergehen und fragen, ob in der Bibliothek eine Tote liegt? Ich mach mich doch nicht lächerlich!»

«Du brauchst ja nicht zu fragen. Wenn tatsächlich irgendwo eine Leiche ist – vielleicht hat Mary ja den Verstand verloren und sieht Dinge, die gar nicht da sind –, dann wirst du es sofort erfahren. Du selbst brauchst da gar nichts zu sagen.»

Murrend hüllte sich Colonel Bantry in seinen Morgenrock und verließ das Zimmer. Er schritt den Flur entlang und die Treppe hinab. Unten stand dicht zusammengedrängt ein Grüppchen Dienstboten; einige von ihnen schluchzten. Der Butler trat gewichtig vor.