Colonel Melchett unterbrach die Tirade des Direktors.
«Und da hat Josie vorgeschlagen, das Mädchen herzuholen, ihre Kusine?»
«Richtig», antwortete Prestcott unwirsch. «Das schien mir recht vernünftig. Mehr Geld wollte ich allerdings nicht ausgeben. Das Mädchen bekam Kost und Logis, über das Geld mussten sich die beiden untereinander einigen. So wurde das geregelt. Ich wusste von dem Mädchen überhaupt nichts.»
«Aber sie hat sich bewährt?»
«Durchaus, da gab es nichts zu beanstanden. Sie war zwar sehr jung und von der Aufmachung her etwas gewöhnlich für ein Haus wie unseres, aber sie hatte eine nette Art, ruhig und wohlerzogen. Gute Tänzerin. Die Leute mochten sie.»
«Hübsch?»
Eine Frage, die beim Anblick des blau geschwollenen Gesichts nicht zu beantworten gewesen war.
Mr. Prestcott überlegte.
«Es geht so. Etwas wieselhaft, wenn Sie verstehen, was ich meine. Hätte ohne Make-up nicht viel hergemacht. Aber so sah sie recht reizvoll aus.»
«Sind viele junge Männer um sie herumscharwenzelt?»
«Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Sir», Mr. Prestcott wurde wieder unruhig. «Also, ich habe nichts bemerkt. Nichts Besonderes jedenfalls. Ein paar von den Jungen sind ständig um sie herumgestrichen, aber alles ganz harmlos. Nichts in Richtung Erwürgen, würde ich sagen. Sie hat es auch mit älteren Leuten gut verstanden, hat so unbefangen drauflosgeplappert – ganz kindlich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Herrschaften fanden das amüsant.»
«Mr. Jefferson auch?», fragte Superintendent Harper mit tiefer, melancholischer Stimme.
Der Direktor bejahte.
«Gerade an Mr. Jefferson hatte ich dabei gedacht. Sie war viel mit ihm und seiner Familie zusammen. Manchmal hat er sie auch auf Autofahrten mitgenommen. Mr. Jefferson hat gern junge Leute um sich und ist sehr nett zu ihnen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Als Invalide hat er nicht viel Bewegungsfreiheit, nur soweit sein Rollstuhl es zulässt. Aber er sieht es immer gern, wenn junge Leute sich vergnügen – schaut ihnen beim Tennis und beim Baden zu und dergleichen –, und er gibt hier im Haus Gesellschaften für sie. Er liebt die Jugend, und er ist keineswegs verbittert, wie man erwarten könnte. Ein sehr beliebter Herr und ein Mann von Charakter, würde ich sagen.»
«Und für Ruby Keene hat er sich interessiert?»
«Er fand ihr Geplauder amüsant, nehme ich an.»
«Haben seine Verwandten seine Vorliebe für sie geteilt?»
«Sie waren immer ausgesprochen freundlich zu ihr.»
Harper fragte: «Und Mr. Jefferson war es also, der Ruby bei der Polizei als vermisst gemeldet hat?»
Er stellte die Frage in einem bewusst viel sagenden, vorwurfsvollen Ton, auf den der Direktor auch prompt reagierte.
«Versetzen Sie sich doch einmal in meine Lage, Mr. Harper. Ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte. Bis Mr. Jefferson zu mir kam, in heller Aufregung. Das Mädchen sei über Nacht ausgeblieben, schon zu ihrem letzten Tanz sei sie nicht erschienen, sie müsse irgendwohin gefahren und möglicherweise verunglückt sein. Man müsse sofort die Polizei verständigen! Nachforschungen anstellen! Völlig außer sich war er und reichlich anmaßend. Er hat dann gleich von meinem Büro aus die Polizei gerufen.»
«Ohne Miss Turner zu fragen?»
«Ja, und dass Josie nicht sehr erbaut davon war, hat man ihr angesehen. Sie war wütend über die ganze Sache, wütend auf Ruby, meine ich. Aber was sollte sie machen?»
«Am besten», sagte Melchett, «wir unterhalten uns einmal mit Mr. Jefferson persönlich, was, Harper?»
Superintendent Harper war einverstanden.
Mr. Prestcott ging mit ihnen in Conway Jeffersons Suite hinauf. Sie lag im ersten Stock, mit Blick aufs Meer.
«Lässt sich’s offenbar gut gehen», sagte Melchett beiläufig. «Reicher Mann?»
«Ja, sehr wohlhabend, glaube ich. Da wird an nichts gespart. Die besten Zimmer, Essen meist à la carte, teure Weine – alles vom Feinsten.»
Melchett nickte.
Mr. Prestcott klopfte an, und eine Frauenstimme sagte: «Herein!»
Der Direktor trat ein, und die anderen folgten ihm.
«Verzeihen Sie die Störung, Mrs. Jefferson», sagte er in bedauerndem Ton zu der Frau, die ihnen von ihrem Platz am Fenster aus entgegensah. «Aber die Herren sind von der Polizei und hätten gern ein paar Worte mit Mr. Jefferson gewechselt. Äh, Colonel Melchett, Superintendent Harper, Inspektor, äh, Slack – Mrs. Jefferson.»
Mrs. Jefferson quittierte die Vorstellung mit einem Neigen des Kopfes.
Eine unscheinbare Person, war Melchetts erster Eindruck. Doch als ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen trat und sie zu reden anfing, änderte er seine Meinung. Sie hatte eine außerordentlich charmante, sympathische Art zu sprechen und schöne, klare haselnussbraune Augen. Sie war dezent, aber nicht unvorteilhaft gekleidet und musste seiner Schätzung nach Mitte dreißig sein.
«Mein Schwiegervater schläft gerade», sagte sie. «Er ist ohnehin nicht der Kräftigste, und diese Sache hat ihn furchtbar mitgenommen. Wir mussten den Arzt rufen, und der hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Sobald er aufwacht, wird er sich sicher gern mit Ihnen unterhalten. Kann ich Ihnen vielleicht solange weiterhelfen? Möchten Sie nicht Platz nehmen?»
Mr. Prestcott, auf Flucht bedacht, fragte Colonel Melchett: «Nun, äh, wenn ich sonst nichts mehr für Sie tun kann…» Er zog sich dankbar zurück.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, lockerte sich die Stimmung. Adelaide Jefferson besaß die Gabe, eine ruhige, entspannte Atmosphäre zu schaffen. Sie war eine Frau, die zwar selbst nichts Bemerkenswertes von sich gab, es aber verstand, andere zum Reden zu ermuntern und ihnen die Befangenheit zu nehmen. Auch jetzt traf sie den richtigen Ton.
«Das war für uns alle ein furchtbarer Schock», sagte sie. «Wir waren sehr häufig mit dem armen Mädchen zusammen, müssen Sie wissen. Irgendwie können wir es noch gar nicht glauben. Mein Schwiegervater ist völlig außer sich. Er hatte Ruby sehr gern.»
«Wie ich höre, hat Mr. Jefferson ihr Verschwinden der Polizei gemeldet?», fragte Colonel Melchett.
Er wollte sehen, wie sie darauf reagierte. Einen Moment lang glomm Ärger in ihren Augen auf – oder war es Besorgnis? Was genau, hätte er nicht zu sagen gewusst, aber etwas war da, und er hatte das deutliche Gefühl, dass sie sich gleichsam für eine unangenehme Aufgabe wappnen musste, ehe sie fortfuhr.
«So ist es», sagte sie. «In seinem Zustand regt er sich leicht auf und macht sich immer gleich Sorgen. Wir haben versucht, ihn zu beruhigen: Es sei alles in Ordnung, es gebe sicher eine ganz harmlose Erklärung, das Mädchen selbst würde bestimmt nicht wollen, dass man die Polizei ruft – aber er hat darauf bestanden. Nun ja», schloss sie mit einer vagen Handbewegung, «er hatte Recht, und wir hatten Unrecht.»
«Wie gut kannten Sie Ruby Keene, Mrs. Jefferson?», fragte Melchett.
Sie dachte einen Moment nach.
«Schwer zu sagen. Mein Schwiegervater mag junge Menschen sehr und hat sie gerne um sich. Ruby war ein ganz neuer Typ für ihn, ihr Geplauder hat ihn amüsiert und interessiert. Sie war hier im Hotel oft mit uns zusammen, und manchmal hat mein Schwiegervater sie auf Autofahrten mitgenommen.»
Das alles klang recht unverbindlich. Sie könnte mehr sagen, wenn sie wollte, dachte Melchett im Stillen.
«Würden Sie mir nun bitte so genau wie möglich schildern, was gestern Abend vorgefallen ist?», fragte er.
«Gern, aber ich fürchte, es wird Ihnen nicht viel weiterhelfen. Nach dem Dinner saß Ruby mit uns im Gesellschaftsraum, auch noch, als man schon angefangen hatte zu tanzen. Wir wollten Bridge spielen, mussten aber noch auf Mark warten, Mark Gaskell, mein Schwager – er war mit Mr. Jeffersons Tochter verheiratet. Er hatte noch ein paar wichtige Briefe zu schreiben, und Josie, die als Vierte mitspielen wollte, war auch noch nicht da.»