«Haben Sie oft zusammen gespielt?»
«Ziemlich oft. Josie ist eine hervorragende Bridgespielerin und eine sehr nette Frau. Mein Schwiegervater spielt leidenschaftlich gern und versucht immer, Josie als Vierte zu bekommen statt irgendjemand Außenstehenden. Da sie hier im Hotel die Bridgepartner zusammenbringen muss, geht das natürlich nicht immer, aber sie spielt mit uns, sooft sie kann.» Ihre Augen lächelten leise. «Mein Schwiegervater lässt eine Menge Geld im Hotel, und deshalb sieht die Direktion es gern, wenn Josie uns bevorzugt.»
«Mögen Sie Josie?», fragte Melchett.
«Ja. Sie ist immer fröhlich und guter Dinge, sie ist tüchtig und scheint ihren Beruf zu lieben. Allzu gebildet ist sie nicht, aber intelligent, und – ja – sie ist immer sie selbst, natürlich und unaffektiert.»
«Bitte fahren Sie fort, Mrs. Jefferson.»
«Also, wie gesagt: Josie war noch beschäftigt, und Mark schrieb seine Briefe, und so saß Ruby etwas länger bei uns als sonst. Wir haben uns unterhalten, und als Josie kam, musste Ruby gehen, um ihren ersten Solotanz mit Raymond zu absolvieren – Raymond ist hier als Tanz- und Tennispartner angestellt. Danach kam sie an unseren Tisch zurück, gleichzeitig mit Mark, aber sie ging bald wieder, um mit einem jungen Mann zu tanzen, und wir vier fingen unsere Bridgepartie an.»
Sie hielt inne und machte eine hilflose kleine Handbewegung.
«Das ist alles, was ich weiß! Ganz kurz habe ich sie noch tanzen sehen, aber Sie wissen ja, Bridge absorbiert einen völlig, und ich habe kaum einmal durch die Scheibe in den Ballsaal hinübergeschaut. Um Mitternacht kam Raymond dann ganz aufgeregt zu Josie und wollte wissen, wo Ruby sei. Josie hat natürlich versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, aber…»
«Wieso ‹natürlich›, Mrs. Jefferson?», unterbrach Superintendent Harper sie mit seiner leisen Stimme.
«Nun ja…» Sie zögerte, ein wenig ungehalten, wie dem Colonel schien. «Josie wollte kein Aufsehen. Sie fühlte sich in gewisser Weise verantwortlich für ihre Kusine. Sie meinte, Ruby sei wahrscheinlich auf ihrem Zimmer, sie hätte etwas von Kopfschmerzen gesagt… Ich glaube übrigens nicht, dass das stimmt, sie wollte Ruby nur entschuldigen. Raymond ging hinaus, um bei Ruby oben anzurufen, aber sie war offenbar nicht da, und er kam ganz aufgelöst zurück – er regt sich sehr leicht auf, müssen Sie wissen. Josie hat ihm gut zugeredet und ist mit ihm weggegangen, und schließlich hat sie an Rubys Stelle mit ihm getanzt. Wirklich tapfer von ihr, denn danach hatte sie wieder Schmerzen im Fuß, das sah man. Nach der Vorstellung kam sie an unseren Tisch zurück und hat versucht, Mr. Jefferson zu beruhigen. Er war inzwischen ganz verstört, aber schließlich konnten wir ihn überreden, zu Bett zu gehen. Wir haben ihm gesagt, Ruby habe wahrscheinlich mit irgendjemandem eine Spritztour unternommen und sie hätten eine Reifenpanne gehabt. Er ist voller Sorge schlafen gegangen, und heute Morgen hat er dann sofort die Polizei gerufen.» Sie schwieg einen Moment. «Den Rest kennen Sie ja.»
«Vielen Dank, Mrs. Jefferson. Und jetzt möchte ich Sie fragen, ob Sie eine Ahnung haben, wer der Täter sein könnte.»
«Nein, nicht die leiseste», antwortete sie prompt. «Da kann ich Ihnen leider gar nicht weiterhelfen.»
«Hat das Mädchen nicht irgendetwas gesagt?», drängte Melchett. «Von Eifersucht? Von einem Mann, vor dem sie Angst hatte? Oder mit dem sie eine intime Beziehung hatte?»
Adelaide Jefferson schüttelte zu jeder Frage nur den Kopf. Sie schien nichts mehr zur Aufklärung des Falles beitragen zu können.
Der Superintendent schlug vor, zunächst George Bartlett zu verhören und später noch einmal wiederzukommen, um mit Mr. Jefferson zu sprechen. Colonel Melchett war einverstanden, und nachdem Mrs. Jefferson versprochen hatte, Bescheid zu geben, wenn Mr. Jefferson aufgewacht sei, gingen die drei Männer.
«Nette Frau», sagte der Colonel, als sie die Tür hinter sich schlossen.
«Ja, wirklich, eine ausgesprochen nette Dame», pflichtete Superintendent Harper bei.
George Bartlett war ein dünner, schlaksiger Jüngling mit vorstehendem Adamsapfel, der ungeheure Schwierigkeiten hatte, sich verständlich auszudrücken. Er war so aufgeregt, dass es kaum möglich war, ihm eine klare Aussage zu entlocken.
«Furchtbar, das Ganze, was? Man liest so was ja immer in der Zeitung, aber wer denkt schon, dass es wirklich passiert?»
«Leider besteht kein Zweifel, Mr. Bartlett», sagte der Superintendent.
«Nein, nein, natürlich nicht, aber komisch ist es schon. Und gar nicht weit von hier – war’s nicht auf irgendeinem Landsitz? Alles piekfein und so. Hat in der Gegend sicher viel Staub aufgewirbelt, was?»
Colonel Melchett griff ein.
«Wie gut kannten Sie die Tote, Mr. Bartlett?»
George Bartlett riss erschrocken die Augen auf.
«Oh, äh, gar nicht gut, Sir. Ich hab sie überhaupt kaum gekannt, sozusagen. Hab ein paar Mal mit ihr getanzt, ein bisschen geplaudert, ein bisschen Tennis gespielt – Sie wissen ja.»
«Sie waren der Letzte, der sie gestern Abend lebend gesehen hat?»
«Ja, sieht so aus – klingt schrecklich, was? Da war sie noch völlig in Ordnung, gesund und munter.»
«Um wie viel Uhr war das, Mr. Bartlett?»
«Ach wissen Sie, ich achte nicht so auf die Zeit. War noch nicht spät, sozusagen.»
«Sie haben mit ihr getanzt?»
«Ja, äh, ich – ja, hab ich. Aber noch ziemlich früh am Abend. Das war direkt nach ihrer Vorführung mit diesem Raymond. Muss so zehn, halb elf, elf gewesen sein, ich weiß es nicht mehr.»
«Gut, lassen wir das, das lässt sich ja feststellen. Jetzt schildern Sie uns bitte ganz genau, was sich gestern Abend abgespielt hat.»
«Also, wie gesagt, wir haben miteinander getanzt. Ein großer Tänzer bin ich ja nicht…»
«Wie Sie tanzen, tut nichts zur Sache, Mr. Bartlett.»
George Bartlett sah den Colonel erschrocken an und stotterte: «Nein, äh, n-n-nein, natürlich nicht. Wir haben also getanzt und getanzt, und ich hab geredet, aber Ruby hat nicht viel gesagt und sogar ein bisschen gegähnt. Ich bin, wie gesagt, kein besonderer Tänzer, und deswegen sind die Mädchen – na ja – nicht so wild drauf, mit mir zu tanzen, sozusagen. Ruby hat behauptet, sie hätte Kopfweh, und so was braucht man mir nicht zweimal zu sagen. Na gut, hab ich gesagt, habe die Ehre – und das war’s dann.»
«Und wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»
«Als sie die Treppe rauf ist.»
«Und sie hat nichts davon gesagt, dass sie jemanden sprechen muss? Oder noch wegfahren will? Oder eine Verabredung hat?»
Bartlett schüttelte den Kopf.
«Zu mir nicht.» Er machte ein ganz betrübtes Gesicht. «Hat mich einfach weggeschickt.»
«Was für einen Eindruck hat sie denn gemacht? Ängstlich, zerstreut, so als wäre sie in Gedanken woanders?»
George Bartlett dachte einen Moment nach und schüttelte von neuem den Kopf.
«Etwas gelangweilt. Hat gegähnt, wie gesagt. Das war alles.»
«Und was haben Sie dann gemacht, Mr. Bartlett?», fragte Colonel Melchett.
«Hm?»
«Was Sie gemacht haben, nachdem Ruby Keene gegangen war.»
George Bartlett starrte ihn offenen Mundes an.
«Ich? Ja – was hab ich eigentlich gemacht?»
«Das wollten wir eigentlich von Ihnen hören.»
«Schon gut, schon gut. Gar nicht so einfach, sich an so was zu erinnern, was? Mal überlegen. Würde mich nicht wundern, wenn ich in die Bar gegangen wäre und was getrunken hätte.»
«Und sind Sie in die Bar gegangen?»
«Ja, ja, das schon. Ich war in der Bar, aber ich glaub, nicht gleich. Erinnere mich dunkel, dass ich raus bin. Bisschen frische Luft schnappen. Ziemlich schwül für September. War sehr schön draußen. Ja, genau, so war’s. Ich bin eine Weile rumspaziert, dann bin ich wieder rein, hab was getrunken und bin dann in den Ballsaal zurück. War nicht viel los. Diese – wie heißt sie noch –, diese Josie war wieder da und hat mit dem Tennisknaben getanzt. War krank gewesen, verstauchter Fuß oder so.»