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«Das heißt, Sie waren um Mitternacht wieder im Hotel. Gehe ich also recht in der Annahme, dass Sie über eine Stunde draußen spazieren gegangen sind?»

«Ich hatte was getrunken, verstehen Sie? Ich hab – äh, ich hab nachgedacht», sagte George Bartlett, eine Äußerung, die noch skeptischer aufgenommen wurde als alle anderen zuvor.

«Worüber haben Sie denn nachgedacht?», fragte Colonel Melchett scharf.

«Ach, ich weiß auch nicht, über alles Mögliche.»

«Haben Sie ein Auto, Mr. Bartlett?»

«Ja.»

«Wo stand es? In der Hotelgarage?»

«Nein, im Hof. Wollte vielleicht noch eine kleine Spritztour machen, verstehen Sie?»

«Und – haben Sie eine gemacht?»

«Nein – nein, hab ich nicht. Ich schwör’s.»

«Sie haben nicht zufällig Miss Keene auf eine Spritztour mitgenommen?»

«Na, hören Sie mal! Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Ich bin nicht weggefahren, ich schwör’s. Wirklich nicht.»

«Vielen Dank, Mr. Bartlett, das wäre im Moment alles. Im Moment», wiederholte Colonel Melchett mit Nachdruck.

George Bartlett sah ihnen mit einem geradezu lächerlich besorgten Ausdruck auf seinen wenig durchgeistigten Zügen nach.

«Trottel», sagte Colonel Melchett.

Superintendent Harper schüttelte den Kopf.

«Wir haben noch einen weiten Weg vor uns», sagte er.

Sechstes Kapitel

I

Weder der Nachtportier noch der Barkeeper erwiesen sich als besonders hilfreich. Der Nachtportier erinnerte sich, dass er kurz nach Mitternacht bei Miss Keene oben angerufen, dass aber niemand abgenommen hatte. Mr. Bartlett hatte er weder beim Verlassen noch beim Betreten des Hotels gesehen. Es sei ein schöner Abend gewesen, an dem sehr viele Damen und Herren ein und aus gegangen seien. Und außer dem Haupteingang zur Halle gebe es ja auch noch die Seiteneingänge zu den Fluren. Er sei sich so gut wie sicher, dass Miss Keene nicht durch den Haupteingang hinausgegangen sei. Von ihrem Zimmer im ersten Stock aus habe sie wahrscheinlich die Treppe dort und dann die Tür am Ende des Flurs benutzt, die auf die seitliche Terrasse führe. Auf diese Weise habe sie das Haus ohne weiteres ungesehen verlassen können, denn die Tür sei erst nach dem Tanzen um zwei Uhr abgeschlossen worden.

Der Barkeeper wusste noch, dass Mr. Bartlett in der Bar gewesen war, konnte aber nicht sagen, wann. Irgendwann im Verlauf des Abends, meinte er. Mr. Bartlett habe an der Wand gesessen und ziemlich deprimiert gewirkt. Wie lange er geblieben sei, wisse er nicht. Es seien auch viele auswärtige Gäste da gewesen. Er hatte George Bartlett zwar gesehen, konnte aber keinerlei Zeitangaben machen.

II

Beim Verlassen der Bar wurden sie von einem etwa neunjährigen Jungen angehalten, der sofort aufgeregt lossprudelte.

«Sind Sie die Kriminalpolizei? Ich bin Peter Carmody. Mr. Jefferson, der wegen Ruby die Polizei gerufen hat, ist mein Großvater. Sind Sie von Scotland Yard? Ich darf doch mit Ihnen reden, oder?»

Colonel Melchett machte ein Gesicht, als wollte er den Jungen kurz abfertigen, doch Superintendent Harper kam ihm zuvor und sagte freundlich: «Aber natürlich, mein Junge. Verständlich, dass dich die Sache interessiert.»

«Und wie! Mögen Sie Kriminalromane? Ich schon. Ich lese alle, und ich hab Autogramme von Dorothy Sayers und Agatha Christie und Dickson Carr und H. C. Bailey. Kommt der Mord in die Zeitung?»

«Worauf du dich verlassen kannst», sagte Superintendent Harper grimmig.

«Nächste Woche fängt nämlich die Schule wieder an, und da kann ich dann allen erzählen, dass ich sie gekannt hab, dass ich sie richtig gut gekannt hab.»

«Und wie fandest du sie, hm?»

Peter überlegte.

«Also, ich hab sie nicht besonders gemocht. Ich glaub, sie war ein bisschen dumm. Mum und Onkel Mark haben sie auch nicht gemocht. Nur Großvater. Ach so, ja, Großvater will Sie sprechen. Edwards sucht Sie schon.»

Superintendent Harper ermunterte den Jungen weiterzureden.

«Soso, deine Mutter und dein Onkel Mark mochten Ruby Keene nicht besonders. Und warum nicht?»

«Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht weil sie immer mitten reingeplatzt ist. Und weil Großvater so viel Wirbel um sie gemacht hat, das hat ihnen auch nicht gefallen. Wahrscheinlich sind sie froh, dass sie tot ist», sagte Peter vergnügt.

Superintendent Harper sah den Jungen nachdenklich an.

«Haben sie – äh – haben sie das gesagt?», fragte er.

«Nicht direkt. Onkel Mark hat gesagt: ‹Immerhin eine Lösung›, und Mum hat gesagt: ‹Ja, aber eine grauenvolle›, und Onkel Mark hat gesagt, sie soll nicht so scheinheilig tun.»

Die beiden Männer wechselten einen Blick. Im selben Moment trat ein distinguiert wirkender, glatt rasierter, korrekt in blauen Serge gekleideter Mann zu ihnen.

«Entschuldigen Sie, meine Herren. Ich bin Mr. Jeffersons Kammerdiener. Er ist aufgewacht und lässt Sie bitten – er möchte Sie dringend sprechen.»

Zum zweiten Mal stiegen sie zu Conway Jeffersons Suite hinauf. Im Salon unterhielt sich Adelaide Jefferson mit einem hoch gewachsenen, nervös wirkenden Mann, der rastlos auf und ab ging. Als sie eintraten, fuhr er herum.

«Ach, gut, dass Sie kommen. Mein Schwiegervater hat schon nach Ihnen gefragt. Er ist jetzt wach. Versuchen Sie ihn möglichst nicht zu beunruhigen, ja? Sein Gesundheitszustand ist nicht der beste. Ein wahres Wunder, dass der Schock ihn nicht umgeworfen hat.»

«Ich wusste gar nicht, dass er in so schlechter Verfassung ist.»

«Er weiß es selbst nicht», sagte Mark Gaskell. «Das Herz, verstehen Sie? Keine größeren Aufregungen, hat der Arzt zu Addie gesagt. Er hat ihr mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben, dass es jederzeit zu Ende gehen kann, nicht wahr, Addie?»

Mrs. Jefferson nickte. «Erstaunlich, wie er sich wieder erholt hat», sagte sie.

«Mord ist natürlich nicht gerade ein Beruhigungsmittel», sagte Colonel Melchett trocken, «aber wir werden so behutsam wie möglich vorgehen.»

Während er sprach, taxierte er Mark Gaskell. Der Bursche gefiel ihm nicht. Ein anmaßendes, skrupellos wirkendes Raubvogelgesicht. Einer jener Männer, die es gewohnt sind, ihren Willen durchzusetzen, und oft von Frauen bewundert werden.

Dem würde ich nicht über den Weg trauen, dachte der Colonel bei sich. Skrupellos – das war das richtige Wort. Einer, der vor nichts zurückschreckte.

III

In dem großen Schlafzimmer, das aufs Meer hinausging, saß Conway Jefferson in seinem Rollstuhl am Fenster.

Sobald man sich mit ihm in einem Raum befand, spürte man die Kraft und Ausstrahlung dieses Mannes. Es war, als hätten die Verletzungen, die ihn zum Krüppel gemacht hatten, alle Energie seines zerstörten Körpers gebündelt und gesteigert.

Er hatte einen schönen Kopf mit leicht angegrautem rotem Haar. Die Augen in dem markant zerfurchten, tief gebräunten Gesicht waren geradezu bestürzend blau. Nichts an Mr. Jefferson verriet Krankheit oder Trübsinn. Die tiefen Linien in seinem Gesicht waren Linien des Leidens, nicht der Schwäche. Er war ein Mann, der niemals mit dem Schicksal haderte, sondern es annahm und neuen Ufern zustrebte.

«Ich bin froh, dass sie gekommen sind», sagte er. Er musterte sie mit einem raschen Blick und wandte sich an Melchett: «Sie sind der Chief Constable von Radfordshire? Ah, ja. Und Sie müssen Superintendent Harper sein. Setzen Sie sich doch. Zigaretten finden Sie auf dem Tisch neben Ihnen.»