Sie bedankten sich und nahmen Platz. Melchett sagte: «Wie ich höre, haben Sie sich für die Tote interessiert, Mr. Jefferson?»
Ein gequältes Lächeln huschte über das zerfurchte Gesicht.
«Ja, das haben Ihnen wohl alle gleich erzählt! Nun, es ist auch kein Geheimnis. Was hat Ihnen denn meine Familie gesagt?» Sein Blick wanderte rasch zwischen den beiden Männern hin und her.
Die Antwort gab Colonel Melchett: «Nicht viel. Mrs. Jefferson hat nur erwähnt, dass Sie das Geplauder des Mädchens amüsant fanden und dass sie eine Art Schützling von Ihnen war. Mit Mark Gaskell haben wir nur ein paar Worte gewechselt.»
Conway Jefferson lächelte.
«Addie ist immer so diskret, die Gute! Mark hätte sich da weniger Zwang angetan. Am besten, Melchett, ich berichte etwas ausführlicher, damit Sie meine Haltung verstehen. Anfangen muss ich dazu bei der großen Tragödie meines Lebens. Vor acht Jahren habe ich bei einem Flugzeugabsturz meine Frau, meinen Sohn und meine Tochter verloren. Seitdem bin ich nur noch ein Schatten meiner selbst – ich spreche nicht von meinem körperlichen Zustand. Ich war ein ausgesprochener Familienmensch. Meine Schwiegertochter und mein Schwiegersohn haben sich rührend um mich gekümmert und alles getan, um mir mein eigen Fleisch und Blut zu ersetzen. Aber mir ist klar geworden – besonders in letzter Zeit –, dass sie ihr eigenes Leben führen müssen.
Sie werden also verstehen, dass ich im Grunde ein einsamer Mann bin. Ich mag junge Menschen. Sie machen mir Freude. Ein paar Mal hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt, ein Mädchen oder einen Jungen zu adoptieren. In den letzten Wochen hatte ich mich sehr mit Ruby Keene angefreundet. Sie war so unbefangen und natürlich. Sie hat mir viel von sich erzählt, von ihren Erlebnissen als Darstellerin in Weihnachtsaufführungen und bei Tourneetheatern, als Kind mit ihren Eltern in möblierten Zimmern. Ein Leben, das so anders war als alles, was ich kannte! Und nie hat sie geklagt oder sich dafür geschämt. Sie war einfach ein natürliches, positiv eingestelltes, fleißiges Kind, charmant und unverdorben. Vielleicht nicht unbedingt eine Dame, aber zum Glück weder vulgär noch geziert.
Ruby wuchs mir immer mehr ans Herz, und ich beschloss, sie zu adoptieren, meine Herren. Ich wollte, dass sie meine rechtmäßige Tochter wird. Das erklärt hoffentlich meine Sorge um sie und die Schritte, die ich unternahm, als ich von ihrem unerklärlichen Verschwinden hörte.»
Eine Pause trat ein. Dann sprach Superintendent Harper, und sein nüchterner Ton nahm seiner Stimme alles Kränkende. «Darf ich fragen, was Ihr Schwiegersohn und Ihre Schwiegertochter dazu gesagt haben?»
Jeffersons Antwort kam prompt: «Was sollten sie groß sagen? Begeistert waren sie vielleicht nicht – so etwas weckt ja leicht eine gewisse Voreingenommenheit –, aber sie haben sich sehr anständig benommen, wirklich sehr anständig. Die beiden sind keineswegs abhängig von mir, müssen Sie wissen. Als mein Sohn Frank geheiratet hat, habe ich ihm die Hälfte meines Vermögens übertragen. Das ist in meinen Augen eine gute Sache. Man sollte seine Kinder nicht warten lassen, bis man tot ist. Sie brauchen das Geld, solange sie jung sind, und nicht erst Jahre später. Deshalb habe ich auch meiner Tochter Rosamund, als sie partout einen armen Mann heiraten wollte, eine hohe Summe ausgesetzt, die nach ihrem Tod auf ihn übergegangen ist. Sie sehen, finanziell lagen die Dinge recht einfach.»
«Ich verstehe, Mr. Jefferson», sagte Superintendent Harper, doch in seiner Stimme schwang eine gewisse Skepsis mit, die Conway Jefferson nicht entging.
«Aber Sie sind anderer Meinung, wie?», fragte er.
«Ich möchte mir da kein Urteil anmaßen, Sir, aber meiner Erfahrung nach lassen sich Mitglieder einer Familie nicht immer von der Vernunft leiten.»
«Da mögen Sie durchaus Recht haben, Superintendent, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson streng genommen keine Familienmitglieder sind. Sie sind nicht blutsverwandt mit mir.»
«Gewiss, das ist natürlich etwas anderes», räumte der Superintendent ein.
Conway Jefferson blinzelte. «Was aber nicht heißt, dass sie mich nicht für einen alten Narren gehalten haben – eine durchaus normale Reaktion übrigens. Aber ich war kein Narr. Einen guten Charakter erkenne ich sehr wohl. Mit etwas Bildung und gesellschaftlichem Schliff hätte sich Ruby Keene überall behauptet.»
«Es tut mir Leid, dass wir so indiskret sein müssen, aber es ist nun einmal wichtig, dass alle Fakten zusammengetragen werden. Sie hatten vor, uneingeschränkt für das Mädchen Vorsorge zu treffen, ihr also Geld auszusetzen, aber Sie hatten es noch nicht getan?»
«Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sie meinen, jemand könnte vom Tod des Mädchens profitieren. Aber das wäre gar nicht möglich. Die nötigen Schritte für die Adoption waren zwar eingeleitet, aber noch nicht abgeschlossen.»
«Wenn Ihnen also etwas zustoßen würde…?»
Er vollendete den Satz nicht, doch Conway Jefferson hatte die Antwort schon parat.
«Was sollte mir zustoßen? Ich bin ein Krüppel, aber ich bin nicht krank! Auch wenn die Ärzte gern lange Gesichter machen und mir raten, es nicht zu übertreiben. Übertreiben! Ich fühle mich bärenstark! Aber natürlich bin ich mir der Unausweichlichkeit des Schicksals bewusst – mein Gott, ich habe allen Grund dazu! Der Tod kann auch den Stärksten plötzlich treffen, zumal bei den vielen Verkehrsunfällen heutzutage. Aber ich habe vorgesorgt. Vor etwa zehn Tagen habe ich ein neues Testament gemacht.»
«Ach ja?» Superintendent Harper beugte sich vor.
«Ich hatte Ruby Keene fünfzigtausend Pfund ausgesetzt, die bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag treuhänderisch verwaltet werden sollten.»
Superintendent Harpers Augen weiteten sich, Colonel Melchetts ebenso. «Das ist eine sehr hohe Summe, Mr. Jefferson», sagte Harper fast ehrfurchtsvoll.
«Heute ja.»
«Und die wollten Sie einem Mädchen überlassen, das sie erst wenige Wochen kannten?»
Zorn blitzte in den leuchtend blauen Augen auf.
«Wie oft muss ich es denn noch sagen? Ich habe keine Blutsverwandten, keine Nichten und Neffen, nicht einmal entfernte Vettern oder Kusinen! Ich hätte das Geld auch für einen guten Zweck stiften können, aber eine Einzelperson ist mir lieber!» Er lachte. «Aschenputtel wurde über Nacht Prinzessin! Die männliche Variante der guten Fee. Warum nicht? Es ist mein Geld. Ich habe es selbst verdient.»
«Haben Sie noch andere Verfügungen getroffen?», fragte Colonel Melchett.
«Edwards, mein Kammerdiener, erhält ein kleines Legat, der Rest geht zu gleichen Teilen an Mark und Addie.»
«Und dieser Rest – Sie entschuldigen –, handelt es sich da um einen großen Betrag?»
«Wahrscheinlich nicht. Genau lässt sich das schwer sagen, Kapitalanlagen schwanken ja ständig. Nach Abzug der Kosten für die Beerdigung und aller sonstigen Ausgaben werden wohl um die fünf- bis zehntausend Pfund übrig bleiben.»
«Aha.»
«Halten Sie mich bitte nicht für kleinlich. Bei der Heirat meiner Kinder habe ich, wie gesagt, mein Vermögen aufgeteilt. Für mich selbst habe ich nur eine ganz geringe Summe zurückbehalten. Aber nach – nach der Tragödie habe ich mich in die Arbeit gestürzt, um mich abzulenken. In meinem Haus in London habe ich eigens eine direkte Leitung vom Schlafzimmer in mein Büro legen lassen. Ich habe hart gearbeitet. Das hat mich vom Nachdenken abgehalten und mir das Gefühl gegeben, dass meine – meine Verstümmelung mich nicht niederzwingen kann. Ich habe mich ganz aufs Geschäft konzentriert» – seine Stimme wurde tiefer, und er schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu seinen Zuhörern – «und ironischerweise gedieh alles, was ich tat, prächtig! Die gewagtesten Spekulationen hatten Erfolg, riskante Manöver glückten, alles, was ich anfasste, verwandelte sich in Gold. Als wollte das Schicksal einen gerechten Ausgleich schaffen.»