Das schien Starr neu zu sein. Er spitzte die Lippen und stieß einen Pfiff aus. «Das raffinierte kleine Biest! Na, Alter schützt vor Torheit nicht.»
«So sehen Sie das also.»
«Wie sonst? Aber wenn der alte Knabe unbedingt jemanden adoptieren wollte, wieso hat er sich dann nicht ein Mädchen aus seinen eigenen Kreisen ausgesucht?»
«Hat Ruby Keene Ihnen gar nichts davon erzählt?»
«Nein. Ich weiß, dass sie sich über irgendetwas sehr gefreut hat, aber ich wusste nicht, worüber.»
«Und Josie?»
«Die müsste eigentlich gewusst haben, was da im Busch war. Bestimmt hat sie das Ganze eingefädelt. Sie ist nämlich nicht auf den Kopf gefallen, diese Josie.»
Harper nickte. Josie hatte ihre Kusine ja überhaupt erst hergeholt, und zweifellos hatte sie deren engen Kontakt mit Mr. Jefferson gefördert. Kein Wunder, dass sie aufgebracht gewesen war, als Ruby nicht zu ihrer Tanzvorführung erschienen und Conway Jefferson in Panik geraten war. Sie hatte ihre Felle davonschwimmen sehen.
«Meinen Sie, Ruby konnte ein Geheimnis für sich behalten?», fragte Harper.
«So gut wie jeder andere auch. Über ihre Privatangelegenheiten hat sie nicht viel verlauten lassen.»
«Hat sie irgendwann einmal etwas – egal, was – von einem Freund erzählt, jemandem von früher, der sie besuchen wollte oder mit dem sie Ärger hatte – Sie kennen das ja sicher.»
«Und ob. Aber soviel ich weiß, war da niemand. Jedenfalls hat sie nichts davon gesagt.»
«Vielen Dank, Mr. Starr. Würden Sie mir jetzt bitte mit Ihren eigenen Worten genau schildern, was gestern Abend vorgefallen ist?»
«Aber sicher. Ruby und ich hatten unsere Halb-elf-Uhr-Vorführung…»
«Und da haben Sie nichts Ungewöhnliches an ihr bemerkt?»
Raymond überlegte.
«Eigentlich nicht. Was danach war, hab ich nicht mitbekommen, weil ich mich um meine eigenen Partnerinnen kümmern musste. Aber ich weiß, dass sie nicht im Ballsaal war. Und um zwölf ist sie nicht erschienen. Ich hab mich sehr geärgert und bin zu Josie, die mit den Jeffersons Bridge gespielt hat. Sie wusste auch nicht, wo Ruby war, und ich glaube, sie ist ziemlich erschrocken. Ich hab gesehen, wie sie Mr. Jefferson einen besorgten Blick zugeworfen hat. Ich hab die Kapelle überredet, noch einen Tanz zu spielen, und bin ins Büro, um in Rubys Zimmer anrufen zu lassen. Aber sie hat sich nicht gemeldet. Dann bin ich wieder zu Josie. Sie hat gemeint, Ruby würde vielleicht schlafen, was natürlich völliger Quatsch war, sie wollte nur die Jeffersons beruhigen. Dann ist sie aufgestanden und hat gesagt, wir gehen zusammen rauf.»
«Aha. Und als Sie mit ihr allein waren, Mr. Starr, was hat sie da gesagt?»
«Soweit ich mich erinnere, war sie ziemlich wütend und hat gesagt: ‹Die dumme Gans! Das kann sie doch nicht machen! Damit setzt sie alles aufs Spiel! Weißt du, mit wem sie zusammen ist?› Ich hab gesagt, ich hätte keine Ahnung, aber zuletzt hätte ich sie mit dem jungen Bartlett tanzen sehen. Da hat sie gesagt: ‹Mit dem ist sie bestimmt nicht zusammen. Was macht sie bloß für Sachen? Meinst du, sie ist mit diesem Filmmenschen unterwegs?›»
«Filmmensch?», unterbrach Harper scharf. «Wer soll das sein?»
«Wie er heißt, weiß ich nicht», sagte Raymond. «Er hat nie hier im Hotel gewohnt. Ziemlich auffallender Typ, schwarze Haare, sieht aus wie ein Schauspieler. Hat wohl was mit der Filmbranche zu tun – das hat er Ruby jedenfalls gesagt. War ein paar Mal zum Dinner hier und hat dann mit Ruby getanzt, aber näher gekannt hat sie ihn, glaube ich, nicht. Deswegen war ich so überrascht, als Josie ihn erwähnt hat. Ich hab zu ihr gesagt, heute Abend sei er wohl nicht da gewesen, und sie hat gesagt: ‹Aber mit irgendjemand muss sie doch unterwegs sein. Was sag ich denn jetzt bloß den Jeffersons?› Ich wollte wissen, was die Jeffersons das angeht, und sie hat gesagt, es geht sie was an. Und dass sie’s Ruby nie verzeihen würde, wenn sie jetzt alles verdirbt.
Inzwischen waren wir in Rubys Zimmer angelangt. Sie war nicht da, klar, aber da gewesen war sie, denn das Kleid, das sie getragen hatte, lag über einem Stuhl. Josie hat in den Schrank geschaut und gesagt, sie hätte ihr altes weißes Kleid angezogen. Eigentlich hätte sie für unseren spanischen Tanz ein schwarzes Samtkleid tragen müssen. Ich war inzwischen ziemlich sauer, weil sie mich versetzt hatte. Josie hat sich alle Mühe gegeben, mich zu beruhigen, und gesagt, sie würde selbst mit mir tanzen, dann könne der alte Prestcott nichts sagen. Sie ging sich umziehen, und wir sind wieder runter und haben einen Tango vorgeführt – etwas übertrieben im Stil, ganz auf Effekt angelegt, aber für Josies Knöchel nicht allzu belastend. Josie war wirklich tapfer – ich hab gemerkt, dass sie Schmerzen hat. Danach wollte sie, dass ich ihr helfe, die Jeffersons zu beruhigen. Es sei wichtig, hat sie gesagt. Ich hab natürlich mein Bestes getan.»
Superintendent Harper nickte. «Vielen Dank, Mr. Starr», sagte er.
Und ob es wichtig war, dachte er bei sich. Fünfzigtausend Pfund!
Er sah Raymond Starr nach, wie er geschmeidig die Terrassenstufen hinunterging und unterwegs ein Netz mit Tennisbällen und einen Tennisschläger an sich nahm. Mrs. Jefferson, ebenfalls mit einem Schläger bewaffnet, gesellte sich zu ihm, und sie gingen zusammen zu den Tennisplätzen.
«Verzeihung, Sir.»
Ein nach Atem ringender Sergeant Higgins stand neben Harper.
Der Superintendent, aus seinen Gedanken gerissen, sah ganz erschrocken drein.
«Meldung aus dem Präsidium für Sie, Sir. Ein Landarbeiter hat heute Morgen einen Feuerschein gesehen. Vor einer halben Stunde ist in einem Steinbruch ein ausgebranntes Auto gefunden worden. Venn’s Quarry, etwa zwei Meilen von hier. Spuren einer verkohlten Leiche im Wagen.»
Das Blut schoss Harper ins Gesicht.
«Was ist denn nur auf einmal los in Glenshire?», fragte er. «Ist hier eine Gewaltepidemie ausgebrochen? Sagen Sie jetzt nur nicht, das wird ein zweiter Fall Rouse! Haben Sie das Kennzeichen?»
«Nein, Sir, aber wir können den Wagen anhand der Motornummer identifizieren. Vermutlich ein Minoan 14.»
Achtes Kapitel
Sir Henry Clithering hatte kaum einen Blick für die Menschen in der Halle des Majestic, als er zur Treppe schritt. Er war ganz in Gedanken. Doch wie es so geht, nahm er die Umgebung im Unterbewusstsein dennoch wahr, und diese Eindrücke würden zu gegebener Zeit wieder lebendig werden.
Auf dem Weg nach oben dachte Sir Henry darüber nach, was seinen Freund bewogen haben mochte, ihn plötzlich herzubitten. Dringende Hilferufe waren so gar nicht seine Art. Etwas ganz und gar Ungewöhnliches musste geschehen sein.
Jefferson redete auch nicht lange um den heißen Brei herum. «Schön, dass du kommen konntest. Edwards, bringen Sie Sir Henry etwas zu trinken. Setz dich doch. Du hast noch nichts gehört, nehme ich an? Steht es noch nicht in der Zeitung?»
Sir Henry schüttelte den Kopf. Seine Neugier war geweckt.
«Was ist denn passiert?»
«Ein Mord. Und ich bin in den Fall verwickelt, ich und auch deine Freunde, die Bantrys.»
«Arthur und Dolly Bantry?», fragte Clithering ungläubig.
«Ja, die Leiche wurde in ihrem Haus gefunden.»
Mit knappen, klaren Worten schilderte Conway Jefferson die Fakten. Sir Henry hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Beide Männer waren gewohnt, schnell zum Kern einer Sache vorzudringen. In seiner Zeit als Chef der Londoner Polizei war Sir Henry für sein rasches Erfassen des Wesentlichen berühmt gewesen.
«Eine recht ungewöhnliche Sache», sagte er, als der andere geendet hatte. «Was glaubst du, welche Rolle die Bantrys dabei spielen?»
«Das ist genau der Punkt, der mir Sorgen macht. Verstehst du, Henry, für mich sieht es so aus, als könnte meine Bekanntschaft mit ihnen etwas mit dem Fall zu tun haben. Das ist der einzige Zusammenhang, den ich erkennen kann. Meines Wissens haben beide das Mädchen nie zuvor gesehen. Das haben sie zumindest ausgesagt, und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Dass sie sie doch gekannt haben, ist äußerst unwahrscheinlich. Könnte es also nicht sein, dass Ruby von hier weggelockt und ihre Leiche ganz bewusst ins Haus meiner Freunde gebracht wurde?»