«Wenn es wenigstens jemand aus seinen eigenen Kreisen gewesen wäre», sagte Adelaide. «Jeff hat zwei Patenkinder. Wenn er sich eines von ihnen ausgesucht hätte – das hätte man ja noch verstanden.» Und mit leisem Groll setzte sie hinzu: «Und Peter hat er doch so gern.»
«Ach, richtig», sagte Mrs. Bantry, «das hatte ich ganz vergessen. Peter ist ja dein Sohn aus erster Ehe. Für mich war er immer Mr. Jeffersons Enkel.»
«Für mich auch», sagte Adelaide. Irgendetwas in ihrer Stimme veranlasste Miss Marple, sich ihr zuzuwenden.
«An alldem ist nur Josie schuld», sagte Mark. «Die hat sie hierher gebracht.»
«Aber du glaubst doch nicht im Ernst», sagte Adelaide, «dass sie darauf spekuliert hat? Du mochtest Josie doch immer so gern.»
«Ja. Für mich war sie immer ein guter Kumpel.»
«Es war reiner Zufall, dass sie ihre Kusine hergeholt hat.»
«Josie ist aber nicht auf den Kopf gefallen, meine Liebe.»
«Ja, sicher, aber sie konnte doch nicht voraussehen…»
«Stimmt, konnte sie nicht. Ich sage auch nicht, dass sie das alles geplant hat. Aber ich bin mir sicher, dass sie lange vor uns gemerkt hat, woher der Wind weht, und dass sie hübsch den Mund gehalten hat.»
«Das kann man ihr nicht zum Vorwurf machen», seufzte Adelaide.
«Niemandem kann man etwas zum Vorwurf machen!»
«War Ruby Keene sehr hübsch?», wollte Mrs. Bantry wissen.
Mark sah sie groß an. «Ich dachte, Sie hätten sie…»
«Ja, schon, aber nur ihre – ihre Leiche. Sie ist ja erwürgt worden, und da konnte man nicht…» Sie schauderte.
«Ich fand sie überhaupt nicht hübsch», meinte Mark nachdenklich. «Ohne Make-up wär sie’s zumindest nicht gewesen. Spitzes, schmales Gesicht, kaum Kinn, so schräg nach innen stehende Zähne, komische Nase…»
«Klingt ja schrecklich», sagte Mrs. Bantry.
«Nein, nein, so schlimm war’s auch wieder nicht. Wie gesagt, mit Make-up sah sie ganz passabel aus, nicht wahr, Addie?»
«Ja, so eine Art Reklame-Schönheit, ganz in Rosa und Weiß. Aber schöne blaue Augen hatte sie.»
«Ja, naive Babyaugen, und die kohlschwarz getuschten Wimpern haben das Blau noch betont. Die Haare waren natürlich gefärbt. Diese Farben – alles künstlich, versteht sich. Wenn ich’s mir recht überlege, hatte sie darin eine gewisse Ähnlichkeit mit Rosamund, meiner Frau. Möglich, dass der alte Mann dadurch überhaupt erst auf sie aufmerksam geworden ist.»
Er seufzte und fuhr fort: «Üble Sache jedenfalls. Und so schlimm es ist: Addie und ich sind im Grunde froh, dass sie tot ist…»
Seine Schwägerin wollte protestieren, aber er kam ihr zuvor: «Was soll’s, Addie? Ich weiß doch, wie dir zumute ist, und mir geht’s ganz genauso. Das leugne ich gar nicht! Andererseits mache ich mir schreckliche Sorgen um Jeff, verstehen Sie? Das Ganze hat ihn schwer getroffen. Ich…»
Er unterbrach sich und sah zur Terrassentür hinüber.
«Sieh mal, wer da kommt. Na, du bist mir ja eine, Addie!»
Mrs. Jefferson drehte sich um, stieß einen kleinen Schrei aus und erhob sich. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. Raschen Schrittes steuerte sie auf einen hoch gewachsenen Mann mittleren Alters mit schmalem, sonnengebräuntem Gesicht zu, der sich suchend umsah.
«Ist das nicht Hugo McLean?», fragte Mrs. Bantry.
«Allerdings», antwortete Mark Gaskell, «alias William Dobbin.»
«Ein getreuer Vasall, was?», murmelte Mrs. Bantry.
«Anhänglich wie ein Hund. Addie braucht nur zu pfeifen, schon kommt er gesprungen, egal, aus welchem Winkel der Erde. Gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie ihn eines Tages heiratet. Und irgendwann tut sie’s wohl auch.»
Miss Marple betrachtete die beiden strahlend. «Eine Romanze also.»
«Eine von der guten altmodischen Art», versicherte Mark ihr. «Das geht schon jahrelang so. Addie ist eben der Typ für so was.» Nachdenklich fügte er hinzu: «Wahrscheinlich hat sie ihn heute Morgen angerufen und mir nur nichts davon gesagt.»
Edwards näherte sich diskret und blieb neben Mark stehen.
«Verzeihung, Sir, Mr. Jefferson hätte Sie gern gesprochen.»
«Ich komme sofort.»
Mark sprang auf und nickte den anderen zu. «Bis später», sagte er und ging davon.
Sir Henry beugte sich zu Miss Marple und fragte: «Nun, was halten Sie von den Hauptnutznießern des Verbrechens?»
Miss Marple sah gedankenvoll zu Adelaide Jefferson hinüber, die sich mit ihrem alten Freund unterhielt. «Eine rührende Mutter, würde ich sagen.»
«O ja, das ist sie», sagte Mrs. Bantry. «Peter ist ihr Ein und Alles.»
«Eine Frau, die jeder mag», fuhr Miss Marple fort. «Eine, die jederzeit wieder heiraten könnte. Aber kein Vamp – das ist etwas ganz anderes.»
«Ja, ich weiß, was Sie meinen», stimmte Sir Henry zu.
«Und eine gute Zuhörerin ist sie», sagte Mrs. Bantry. «Das ist es wohl, was ihr beide meint.»
Sir Henry lachte. «Und Mark Gaskell?»
«Der? Ein durchtriebener Bursche», antwortete Miss Marple.
«Die Dorfparallele?»
«Mr. Cargill, der Bauunternehmer. Hat eine Menge Leute überredet, Sachen in ihre Häuser einbauen zu lassen, die sie gar nicht brauchten. Unsummen hat er dafür verlangt! Konnte seine Rechnungen aber immer absolut überzeugend erklären. Gerissener Bursche. Hat Geld geheiratet. Wie Mr. Gaskell, nehme ich an.»
«Sie mögen ihn wohl nicht.»
«Doch, doch. Die meisten Frauen werden ihn mögen. Aber mir kann er nichts vormachen. Er mag ja sehr attraktiv sein, aber es ist doch recht unklug von ihm, so viel zu reden.»
«Unklug – das ist das richtige Wort», sagte Sir Henry. «Wenn er nicht aufpasst, wird er sich noch um Kopf und Kragen reden.»
Ein hoch gewachsener, dunkelhaariger junger Mann in weißen Flanellhosen kam die Terrassenstufen herauf und blieb einen Moment stehen, als er Adelaide Jefferson und Hugo McLean sah.
«Und das», setzte Sir Henry die beiden Damen ins Bild, «ist X, bei dem wir ebenfalls ein gewisses Interesse annehmen dürfen. Er ist Eintänzer und Tennistrainer hier im Hotel. Raymond Starr, Ruby Keenes Partner.»
Miss Marple betrachtete ihn neugierig. «Was für ein gut aussehender junger Mann!»
«Wie man’s nimmt.»
«Na, hör mal, Henry», sagte Mrs. Bantry, «was heißt hier ‹wie man’s nimmt›? Er sieht gut aus.»
«Hat Mrs. Jefferson nicht erzählt, dass sie Tennisstunden nimmt?», murmelte Miss Marple.
«Willst du damit etwas Bestimmtes sagen, Jane?»
Miss Marple hatte keine Gelegenheit mehr, diese direkte Frage zu beantworten, denn Peter Carmody kam über die Terrasse und setzte sich zu ihnen.
«Sind Sie auch von der Polizei?», wandte er sich an Sir Henry. «Ich hab Sie vorhin mit dem Superintendent reden sehen. Der Dicke ist doch Superintendent, oder?»
«Ganz recht, mein Junge.»
«Und Sie waren ein ganz hohes Tier in London, hab ich gehört. Chef von Scotland Yard oder so.»
«Ist der Chef von Scotland Yard in Kriminalromanen nicht immer eine komplette Niete?»
«Nein, nein, jetzt nicht mehr. Die Polizei auf die Schippe zu nehmen ist längst aus der Mode. Wissen Sie schon, wer den Mord begangen hat?»
«Leider nein.»
«Das alles macht dir richtig Spaß, Peter, was?», fragte Mrs. Bantry.
«Ja, klar, ist doch mal was anderes. Ich hab schon überall nach Spuren gesucht, aber nichts gefunden. Dafür hab ich ein Andenken. Möchten Sie’s sehen? Mutter wollte, dass ich’s wegschmeiße, stellen Sie sich das vor! Eltern sind manchmal so was von komisch!»
Er griff in die Hosentasche und förderte eine Streichholzschachtel zutage, schob sie auf und präsentierte den kostbaren Inhalt.
«Ein Fingernagel! Von ihr! Ich werde ‹Fingernagel der Ermordeten› draufschreiben und ihn mit in die Schule nehmen. Gutes Andenken, was?»