«Na, immerhin können Sie noch Witze darüber machen.»
«Verdammt geschmacklos, was?», sagte Mark vergnügt. «Aber im Ernst: Ich hab die Hosen voll. Klar – bei einem Mord! Und glauben Sie nicht, der alte Jeff täte mir nicht Leid. Er tut mir Leid. Aber besser so – so schlimm der Schock auch war –, als wenn er ihr draufgekommen wäre.»
«Draufgekommen? Was meinen Sie damit?»
Mark zwinkerte. «Wo war sie denn wohl gestern Abend? Jede Wette, sie hat sich mit einem Mann getroffen. Das hätte Jeff nicht gefallen. Das hätte ihm ganz und gar nicht gefallen. Wenn er herausbekommen hätte, dass sie ihm etwas vormacht, dass sie gar nicht die plappernde kleine Unschuld ist… Nun ja, mein Schwiegervater ist ein seltsamer Mensch, ein Mensch von großer Selbstbeherrschung, die aber auch zusammenbrechen kann. Und dann heißt’s aufpassen!»
Sir Henry sah ihn neugierig an. «Mögen Sie ihn denn nun, oder mögen Sie ihn nicht?»
«Ich mag ihn sehr – aber ich ärgere mich auch über ihn. Ich will versuchen, Ihnen das zu erklären. Conway Jefferson ist ein Mensch, der seine Umgebung unter Kontrolle haben will. Er ist ein gütiger Despot, freundlich, großzügig, liebevoll, aber er gibt den Ton an, und die anderen müssen nach seiner Pfeife tanzen.»
Mark Gaskell machte eine Pause.
«Ich habe meine Frau geliebt. Nie wieder werde ich so für eine Frau empfinden. Rosamund war Sonnenschein, Lachen, Blumen, und nach ihrem Tod kam ich mir vor wie ein k.o. geschlagener Boxer. Aber der Ringrichter zählt jetzt schon eine ganze Weile. Schließlich bin ich ein Mann. Ich mag Frauen. Heiraten will ich allerdings nicht noch mal, beim besten Willen nicht. Na schön. Ich musste zwar diskret vorgehen, aber ich hab mich ganz gut amüsiert. Die arme Addie nicht. Addie ist eine wirklich nette Frau. Der Typ, den ein Mann für die Ehe will, nicht fürs Bett. Geben Sie ihr die geringste Chance, und sie wird wieder heiraten – und glücklich sein und den Mann ebenfalls glücklich machen. Aber der alte Jeff hat in ihr immer nur Franks Frau gesehen – so lange, bis sie sich selbst so gesehen hat. Er weiß es nicht, aber wir haben uns wie im Gefängnis gefühlt. Ich bin ausgebrochen, still und heimlich, vor langer Zeit schon. Und Addie ist diesen Sommer ausgebrochen. Das war ein Schock für ihn. Seine Welt brach zusammen. Das Resultat: Ruby Keene.»
Er konnte nicht widerstehen und sang:
«Dass sie begraben ward so früh –
Doch ich, wie trag ich’s nur!
Kommen Sie, trinken wir was, Clithering.»
Kein Wunder, dachte Sir Henry, dass die Polizei Mark Gaskell verdächtigt.
Dreizehntes Kapitel
Dr. Metcalf war einer der bekanntesten Ärzte in Danemouth, ein Mann in mittleren Jahren mit einer ruhigen, angenehmen Art zu sprechen. Er war zurückhaltend im Umgang mit seinen Patienten, doch wenn er in ein Krankenzimmer trat, hellten sich die Mienen unfehlbar auf.
Dr. Metcalf hörte Superintendent Harper aufmerksam zu und gab auf seine Fragen freundlich und präzise Auskunft.
«Ich kann also davon ausgehen, Dr. Metcalf, dass Mrs. Jeffersons Angaben im Wesentlichen den Tatsachen entsprechen?»
«Ja, Mr. Jeffersons Gesundheitszustand ist prekär. Schon seit Jahren treibt der Mann einen schonungslosen Raubbau an seinen Kräften. Er ist fest entschlossen, ein ganz normales Leben zu führen, und mutet sich deshalb weit mehr zu als ein gesunder Mann seines Alters. Er weigert sich, das Leben leichter zu nehmen, sich auszuruhen, kürzer zu treten und wie die Phrasen alle lauten, die ich und seine anderen medizinischen Berater vorbringen. Und das Ergebnis: Der Mann ist wie ein überdrehter Motor. Herz, Lunge Blutdruck – alles ist überlastet.»
«Und er will partout nicht auf Sie hören, sagen Sie?»
«Ja, aber ich kann’s ihm nicht verdenken. Ich sage es meinen Patienten nicht, Superintendent, aber ein Mensch kann ebenso gut bis zum Schluss aktiv sein, wie er langsam verkümmern kann. Viele meiner Kollegen halten es mit der ersten Variante, und glauben Sie mir, es ist nicht unbedingt die schlechtere. An einem Ort wie Danemouth sieht man natürlich eher das Gegenteiclass="underline" Kranke, die sich ans Leben klammern und schreckliche Angst haben, sich zu überanstrengen, die sich vor Zugluft, vor Bazillen, vor unbekömmlicher Nahrung fürchten!»
«Das glaub ich gern», sagte Superintendent Harper. «Es läuft also auf Folgendes hinaus: Conway Jefferson ist stark – körperlich gesehen, oder genauer gesagt, von der Muskulatur her. Was schafft er denn so alles?»
«Er hat enorme Kräfte in Armen und Schultern. Vor seinem Unfall hat er nur so vor Kraft gestrotzt. Er handhabt seinen Rollstuhl äußerst geschickt und kann sich an Krücken durchs Zimmer bewegen, vom Bett zum Sessel beispielsweise.»
«Kämen für einen Mann mit seinen Verletzungen nicht Beinprothesen in Frage?»
«Nein, in seinem Fall nicht. Die Wirbelsäule ist geschädigt.»
«Verstehe. Fassen wir also noch einmal zusammen: Was die Muskulatur anbelangt, ist Jefferson in bester Form. Und sonst fühlt er sich auch wohl?»
Metcalf nickte.
«Aber sein Herz ist in schlechtem Zustand», fuhr Harper fort. «Jede Überanstrengung, jeder Schock oder jede plötzliche Aufregung kann das Ende bedeuten. Ist das richtig?»
«Mehr oder weniger. Es ist die Dauerbelastung, die ihn nach und nach umbringt, denn Müdigkeit ignoriert er. Das macht es für das Herz noch kritischer. Dass eine plötzliche Anstrengung ihn tötet, ist eher unwahrscheinlich, aber ein Schock könnte leicht dazu führen. Davor habe ich seine Familie auch ausdrücklich gewarnt.»
«Aber im vorliegenden Fall hat die Aufregung ihm nichts anhaben können», sagte Superintendent Harper langsam. «Ich meine, einen schlimmeren Schock hätte es doch kaum geben können, und trotzdem hat er überlebt.»
Dr. Metcalf zuckte die Schultern. «Tja, aber wenn Sie meine Erfahrung hätten, Superintendent, dann wüssten Sie, dass man aus der Krankengeschichte eines Patienten unmöglich eine genaue Prognose ableiten kann. Leute, die eigentlich an einem Schock oder an Unterkühlung sterben müssten, sterben eben nicht an einem Schock oder an Unterkühlung et cetera, et cetera. Der menschliche Körper ist zäher, als man glaubt. Zudem führt meiner Erfahrung nach ein physischer Schock häufiger zum Tod als ein psychischer. Vereinfacht ausgedrückt: Eine zugeknallte Tür könnte Mr. Jefferson eher töten als die Nachricht, dass ein Mädchen, das er sehr gern hatte, auf grausame Weise umgekommen ist.»
«Und wie erklärt sich das?»
«Eine schlechte Nachricht löst fast immer eine Abwehrreaktion aus. Sie betäubt den Empfänger, so dass er – zunächst jedenfalls – unfähig ist, sie aufzunehmen. Es dauert eine Weile, bis sie ganz zu ihm durchdringt. Eine zugeknallte Tür aber, jemand, der plötzlich aus einem Schrank hervorspringt, ein aufheulender Motor beim Überqueren einer Straße – so etwas übt eine unmittelbare Wirkung aus. Das Herz macht vor Schreck einen Satz, um es laienhaft auszudrücken.»
«Aber nach allem, was man weiß, hätte Mr. Jefferson durch den Schock wegen des Mordes an Ruby Keene ohne weiteres zu Tode kommen können?»
«O ja, durchaus.» Der Arzt sah Harper neugierig an. «Sie glauben doch nicht…»
«Ich weiß nicht, was ich glauben soll», erwiderte Superintendent Harper ärgerlich.
«Aber Sie werden zugeben, dass die beiden Dinge bestens zusammenpassen», sagte er wenig später zu Sir Henry Clithering. «Man hätte damit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Erst das Mädchen, deren Tod dann auch Mr. Jefferson dahinrafft – ehe er Gelegenheit hatte, sein Testament zu ändern.»