Der Superintendent blinzelte ein wenig. «Zumindest vermuten wir das. Sie war verabredet – mit einem, nun ja, einem Bekannten.»
«Wieso hat sie dann ein altes Kleid angezogen?», fragte Miss Marple.
Der Superintendent kratzte sich gedankenvoll den Kopf. «Ich verstehe. Sie meinen, eigentlich hätte sie ein neues Kleid tragen müssen.»
«Ihr bestes. Mädchen machen das so.»
«Ja, aber sehen Sie mal, Miss Marple», wandte Sir Henry ein, «angenommen, dieses Rendezvous fand im Freien statt und die beiden sind in einem offenen Wagen gefahren oder in unwegsamem Gelände spazieren gegangen. Da hat sie, um nicht ein neues Kleid zu ruinieren, ein altes angezogen.»
«Das wäre nur vernünftig gewesen», pflichtete der Superintendent bei.
Miss Marple wandte sich ihm zu. «Vernünftig wäre es gewesen», sagte sie lebhaft, «lange Hosen und einen Pullover anzuziehen oder Tweedsachen. Ich will ja nicht snobistisch sein, aber ich fürchte, es lässt sich nicht vermeiden: So hätte es ein Mädchen aus – aus unseren Kreisen gemacht. Ein Mädchen aus gutem Hause» – Miss Marple begann sich zu ereifern – «achtet stets darauf, bei jedem Anlass das Richtige zu tragen. Ein Mädchen aus gutem Hause würde zum Beispiel nie im geblümten Seidenkleid zu einem Geländejagdrennen erscheinen, und wenn es noch so heiß ist.»
«Und die korrekte Kleidung für ein Rendezvous?», fragte Sir Henry.
«Wenn sie sich im Hotel mit ihm trifft oder an einem anderen Ort, wo man Abendkleidung trägt, wird sie natürlich ihr bestes Abendkleid anziehen. Aber im Freien sähe sie darin lächerlich aus, das weiß sie, und deshalb würde sie dort ihre schickste Sportkleidung tragen.»
«Zugegeben. Da spricht die Modeexpertin. Aber in Rubys Fall…»
«Nun, Ruby war, um es rundheraus zu sagen, keine Dame. Sie stammte aus einem Milieu, in dem man auch zu den unpassendsten Anlässen die besten Sachen trägt. Letztes Jahr hatten wir einen Picknickausflug zu den Scrantor Rocks. Sie hätten gestaunt, wie unmöglich die Mädchen angezogen waren. Foulardkleider, Lackschuhe, kunstvolle Hüte – manche jedenfalls. Um auf Felsen und in Stechginster und Heidekraut herumzuklettern! Und die jungen Männer in ihren besten Anzügen. Beim Wandern ist es natürlich etwas anderes. Was man da trägt, ist schon fast eine Uniform – wobei sich die Mädchen nicht klarmachen, dass Shorts nur etwas für sehr Schlanke sind.»
«Und Sie meinen, dass Ruby Keene…?», fragte der Superintendent bedächtig.
«Ich meine, sie hätte ihr Kleid, ihr bestes rosa Kleid, anbehalten. Sie hätte sich nur dann umgezogen, wenn sie etwas noch Neueres gehabt hätte.»
«Und wie erklären Sie sich das alles, Miss Marple?», wollte Superintendent Harper wissen.
«Gar nicht – jedenfalls noch nicht. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist…»
Die Tennisstunde, die Raymond Starr gegeben hatte, war zu Ende. Eine korpulente Frau mittleren Alters stieß einige Dankesquiekser aus, nahm eine himmelblaue Strickjacke an sich und entschwand Richtung Hotel.
Raymond rief ihr ein paar fröhliche Worte nach und wandte sich dann der Bank zu, auf der die drei Zuschauer saßen. Die Bälle baumelten in einem Netz, das er in der Hand hielt, den Schläger hatte er sich unter den Arm geklemmt. Die Heiterkeit auf seinem Gesicht war plötzlich wie weggeblasen. Er wirkte müde und besorgt.
«Geschafft!», sagte er im Näherkommen.
Dann brach das Lächeln wieder hervor, dieses charmante, jungenhafte, ausdrucksvolle Lächeln, das so gut zu seinem sonnengebräunten Gesicht, dem dunklen Haar und der geschmeidigen Figur passte.
Sir Henry fragte sich, wie alt der Mann sein mochte. Fünfundzwanzig, dreißig, fünfunddreißig? Er hätte es unmöglich sagen können.
Raymond schüttelte leicht den Kopf und sagte: «Die lernt es nie.»
«Ist das nicht furchtbar langweilig für Sie?», fragte Miss Marple.
«Ja, manchmal schon. Besonders gegen Ende der Saison. Eine Zeit lang gibt einem der Gedanke an die Bezahlung Auftrieb, aber am Schluss kann auch das die Phantasie nicht mehr anregen!»
Superintendent Harper stand unvermittelt auf. «Ich komme in einer halben Stunde wieder, wenn es Ihnen recht ist, Miss Marple», sagte er.
«Wunderbar, danke. Ich warte hier auf Sie.»
Harper entfernte sich. Raymond sah ihm nach und fragte dann: «Erlauben Sie, dass ich mich einen Moment zu Ihnen setze?»
«Bitte», sagte Sir Henry. «Zigarette?» Er hielt ihm sein Etui hin und überlegte währenddessen, weshalb er diese leise Voreingenommenheit gegen Raymond Starr empfand. Weil er Tennistrainer und Eintänzer war? Wenn ja, dann war es nicht das Tennisspielen, das ihn störte, sondern das Tanzen. Wir Engländer, so schloss Sir Henry, misstrauen jedem Mann, der zu gut tanzt! Der Mensch bewegte sich einfach zu elegant! Ramon, Raymond – wie hieß er noch? Abrupt fragte er ihn danach.
«Ramon war ursprünglich mein Künstlername», erklärte der andere belustigt. «Ramon und Josie, das klingt so schön spanisch, verstehen Sie? Aber es gab zu starke Vorurteile gegen Ausländer, und so wurde Raymond aus mir – sehr britisch –»
«Und in Wirklichkeit heißen Sie ganz anders?», fragte Miss Marple.
«Nein, Ramon ist mein richtiger Name, mein zweiter Vorname. Ich hatte eine argentinische Großmutter…» (Aha, daher der Hüftschwung, dachte Sir Henry nebenbei.) «Aber mein erster Vorname ist Thomas. Schrecklich prosaisch.»
Er wandte sich an Sir Henry. «Kommen Sie nicht aus Devonshire, Sir? Aus Stane? Meine Familie stammt aus der Gegend. Aus Alsmonston.»
Sir Henrys Miene hellte sich auf. «Sie sind einer von den Alsmonstoner Starrs? Das wusste ich ja gar nicht!»
«Nein – das hatte ich auch nicht erwartet.» Leise Bitterkeit schwang in seinen Worten mit.
«Ja, äh, Pech – und so weiter», sagte Sir Henry verlegen.
«Dass das Schloss verkauft worden ist, nachdem es dreihundert Jahre in Familienbesitz war? Ja, das war allerdings Pech. Aber irgendwann müssen Leute wie wir wohl abtreten. Wir haben uns überlebt. Mein älterer Bruder ist nach New York gegangen. Ist im Verlagswesen tätig – es geht ihm gut. Die anderen sind über die ganze Welt verstreut. Es ist heute nicht einfach, Arbeit zu finden, wenn man nichts vorzuweisen hat als eine gute Schulbildung! Wer Glück hat, kommt als Empfangschef in einem Hotel unter. Herkunft und Manieren sind da von Vorteil. Aber ich habe nichts gefunden, nur eine Stelle als Verkäufer in einem Geschäft für sanitäre Anlagen. Exquisite pfirsichfarbene und zitronengelbe Bäder, riesige Ausstellungsräume. Aber da ich nie die Preise und Lieferfristen der verdammten Dinger wusste, hat man mich an die Luft gesetzt.
Das Einzige, was ich wirklich konnte, war tanzen und Tennis spielen. In einem Hotel an der Riviera wurde ich genommen. Leicht verdientes Geld. Es ging mir gut dort. Aber dann war einmal ein alter Colonel im Hotel, so wie man sich einen alten Colonel vorstellt, uralt, britisch bis in die Knochen, so einer, der ständig von Indien schwadroniert. Geht zum Direktor und fragt in voller Lautstärke: ‹Wo ist der Gigolo? Ich brauch den Gigolo. Meine Frau und meine Tochter wollen tanzen, verstehen Sie? Wo steckt der Bursche? Was knöpft er einem ab? Wo bleibt er denn, der Gigolo?›
Blöd, so empfindlich zu sein, aber ich war’s nun mal. Hab den Krempel hingeschmissen und bin hierher gekommen. Schlechtere Bezahlung, aber angenehmere Arbeit. Größtenteils Tennisstunden für vollschlanke Damen, die es nie und nimmer lernen werden. Und Tanzen mit den Mauerblümchen-Töchtern reicher Gäste. Aber so ist das Leben nun mal. So viel zum Thema Pech – tut mir Leid!»
Er lachte. Seine Zähne blitzten weiß, und in den Augenwinkeln erschienen Fältchen. Plötzlich wirkte er wieder gesund und glücklich und sehr lebendig.
«Schön, dass wir so miteinander plaudern können. Ich wollte Sie ohnehin sprechen.»