«Ich bin froh, Ihre Meinung über sie zu hören, das hilft mir sehr. Nun meine nächste Frage: Erinnern Sie sich, ob das Thema Adoption einmal zwischen Mr. Jefferson und seiner Familie besprochen wurde?»
«Da wurde nicht viel besprochen, Sir. Mr. Jefferson hat seinen Entschluss bekannt gegeben und keinen Widerspruch geduldet. Das heißt, er ist Mr. Mark über den Mund gefahren, der sich recht unverblümt geäußert hat. Mrs. Jefferson hat ohnehin nicht viel gesagt – sie ist ja eine sehr ruhige Dame –, sie hat ihn nur eindringlich gebeten, nichts zu überstürzen.»
Sir Henry nickte. «Und sonst? Wie hat das Mädchen sich verhalten?»
«Triumphiert hat sie, Sir – so würde ich es nennen», erwiderte der Diener sichtlich angewidert.
«Aha – triumphiert, sagen Sie? Sie hatten keinen Grund zu der Annahme, Edwards, dass» – er suchte nach einer passenden Formulierung – «dass – äh – ihre Gefühle anderweitig gebunden waren?»
«Mr. Jefferson wollte sie ja nicht heiraten, Sir. Er wollte sie nur adoptieren.»
«Gut, lassen wir das ‹anderweitig› beiseite. Aber die Frage bleibt.»
«Hm, ja, einen Vorfall hat es gegeben, Sir, bei dem ich zufällig Zeuge war.»
«Sehr erfreulich. Erzählen Sie.»
«Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten, Sir, aber einmal, als die junge Frau ihre Handtasche geöffnet hat, ist eine kleine Fotografie herausgefallen. Mr. Jefferson hat sofort danach gegriffen und gesagt: ‹Nanu, Kleines, wer ist denn das?› Es war ein Bild von einem jungen Mann, dunkelhaarig, ziemlich zerzaust, mit schlampig gebundener Krawatte. Miss Keene hat so getan, als wüsste sie von nichts. ‹Ich weiß nicht, Jeffie›, hat sie gesagt, ‹keine Ahnung. Wie kommt das bloß in meine Handtasche? Ich hab’s jedenfalls nicht reingetan!›
Mr. Jefferson konnte sie natürlich nichts vormachen, dafür war die Geschichte zu fadenscheinig. Er war wütend. Seine Stirn hat sich in Falten gelegt, und er hat ziemlich schroff gesagt: ‹Na, na, Kleines, du weißt doch ganz genau, wer das ist.› Da hat sie ihre Taktik schnell geändert und eine erschrockene Miene aufgesetzt. ‹Ach ja›, hat sie gesagt, ‹jetzt erkenne ich ihn. Er kommt manchmal hierher, ich hab auch schon mit ihm getanzt. Wie er heißt, weiß ich nicht. Er muss das Foto heimlich in meine Tasche gesteckt haben, dieser Idiot. Diese Jungen sind so was von albern!› Sie hat den Kopf zurückgeworfen und gekichert und schnell das Thema gewechselt. Aber es klang nicht sehr glaubwürdig. Und so recht geglaubt hat Mr. Jefferson es wohl auch nicht. Er hat sie danach ein paar Mal sehr scharf angesehen, und wenn sie weg gewesen war, hat er sie gefragt, wo sie war.»
«Haben Sie den Mann auf der Fotografie einmal im Hotel gesehen?»
«Nicht, dass ich wüsste, Sir, aber ich halte mich auch nicht oft unten in den gemeinschaftlichen Räumen auf.»
Sir Henry nickte. Er stellte noch einige Fragen, aber Edwards konnte ihm nichts mehr sagen.
In seinem Büro auf dem Polizeirevier in Danemouth verhörte Superintendent Harper Jessie Davis, Florence Small, Beatrice Henniker, Mary Price und Lilian Ridgeway.
Die Mädchen, Töchter von Landadeligen, Bauern und Ladenbesitzern, waren etwa gleichaltrig und einander auch im Wesen ziemlich ähnlich. Alle erzählten dasselbe: Pamela Reeves hatte sich ganz normal verhalten, zu keiner von ihnen hatte sie etwas anderes gesagt, als dass sie noch bei Woolworth einkaufen und mit einem späteren Bus nach Hause fahren wolle.
In der Ecke saß eine ältere Dame. Die Mädchen nahmen kaum Notiz von ihr und fragten sich vermutlich allenfalls, wer sie war. Eine Polizistin bestimmt nicht. Wahrscheinlich eine Zeugin, die ebenfalls verhört werden sollte.
Superintendent Harper geleitete das letzte der Mädchen hinaus, wischte sich die Stirn und wandte sich mit fragendem, aber wenig hoffnungsvollem Blick Miss Marple zu.
Doch Miss Marple sagte entschieden: «Ich würde gern mit Florence Small sprechen.»
Die Brauen des Superintendent hoben sich, aber er nickte nur und drückte auf eine Klingel. Ein Wachtmeister erschien.
«Florence Small», sagte Harper.
Das Mädchen wurde wieder hereingeführt. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Bauern, hoch gewachsen, blond, mit einem etwas töricht wirkenden Mund und ängstlichen braunen Augen. Sie schlang nervös die Hände ineinander.
Superintendent Harper warf Miss Marple einen Blick zu, und sie nickte. Er erhob sich und sagte zu dem Mädchen: «Die Dame möchte dir einige Fragen stellen.» Dann verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Florence Small sah Miss Marple unbehaglich an. Ihre Augen glichen denen der Kälber ihres Vaters.
«Setz dich, Florence», sagte Miss Marple.
Gehorsam nahm Florence Platz. Ohne dass es ihr bewusst war, fühlte sie sich plötzlich wohler, weniger befangen. Die fremde, einschüchternde Atmosphäre des Polizeireviers war etwas Vertrauterem gewichen, dem wohl bekannten Befehlston eines strengen Menschen.
«Es ist von größter Wichtigkeit», sagte Miss Marple, «dass wir über alles, was die arme Pamela am Tag ihres Todes gemacht hat, genau Bescheid wissen, das verstehst du doch sicher, Florence.»
Das Mädchen murmelte ein Ja.
«Und sicher willst du uns dabei nach besten Kräften helfen?»
Natürlich wolle sie das, erwiderte Florence mit misstrauischem Blick.
«Informationen zurückzuhalten ist ein sehr schweres Vergehen.»
Das Mädchens spielte nervös mit den Fingern und schluckte ein paar Mal.
«Ich gestehe dir zu», fuhr Miss Marple fort, «dass es dir Angst macht, mit der Polizei in Berührung zu kommen. Du fürchtest, man könnte dir einen Vorwurf daraus machen, dass du nicht früher geredet hast, und vielleicht auch, dass du Pamela nicht zurückgehalten hast. Aber du musst jetzt tapfer sein und dir die Sache von der Seele reden. Wenn du nicht sagst, was du weißt, dann wird das schlimme Folgen haben – sehr schlimme Folgen. Das käme einem Meineid gleich, und darauf steht, wie du weißt, Gefängnis.»
«Ich – ich…»
«Keine Ausflüchte jetzt, Florence!», rief Miss Marple scharf. «Erzähl mir alles, und zwar sofort! Pamela wollte gar nicht zu Woolworth, stimmt’s?»
Florence leckte sich die trockenen Lippen und sah Miss Marple mit dem flehentlichen Blick eines Tieres auf der Schlachtbank an.
«Es hatte etwas mit dem Film zu tun, nicht wahr?», fragte Miss Marple.
Unendliche Erleichterung mischte sich auf Florences Zügen mit ehrfürchtigem Staunen. Ihre Hemmungen fielen von ihr ab. «Ja!», stieß sie hervor.
«Dacht ich mir’s doch», sagte Miss Marple. «Und nun die Einzelheiten, bitte.»
Jetzt sprudelten die Worte nur so hervor.
«Ich hatte solche Angst! Ich hatte Pam doch versprochen, niemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen. Und dann hat man sie in dem Auto gefunden, verbrannt – o Gott, das war so furchtbar, am liebsten wäre ich gestorben! Ich hatte das Gefühl, alles ist meine Schuld, ich hätte sie zurückhalten müssen. Aber ich hab doch keine Sekunde gedacht, dass da etwas nicht stimmt. Und als man mich gefragt hat, ob sie an dem Tag ganz normal war, da hab ich automatisch ja gesagt. Deswegen konnte ich später nichts mehr sagen. Aber ich wusste ja auch nichts, nicht viel jedenfalls, nur das, was Pam mir erzählt hatte.»
«Und was hat sie dir erzählt?»
«Es war auf dem Weg zum Bus, vor dem Treffen. Sie hat mich gefragt, ob ich ein Geheimnis für mich behalten kann, und ich hab ja gesagt und musste schwören, dass ich es nicht weitersage. Nach dem Treffen sollten in Danemouth von ihr Probeaufnahmen für einen Film gemacht werden! Sie hatte einen Filmproduzenten kennen gelernt, der war gerade frisch aus Hollywood zurück. Er hat für einen Film einen bestimmten Typ gebraucht und Pam gesagt, sie sei genau das, was er sucht. Aber er hat sie gewarnt: Sie sollte sich nicht zu früh freuen, ohne die Aufnahmen könnte man noch gar nichts sagen, man könnte sich da auch sehr irren. Eine Art Bergner-Rolle sei es, hat er gesagt, und man bräuchte eine ganz junge Darstellerin dafür. Es ginge um ein Schulmädchen, das mit einem Revuestar die Rollen tauscht und dann ganz groß Karriere macht. Pam hat öfters in Schulaufführungen mitgespielt, und sie war wirklich gut. Er hat gesagt, er sieht, dass sie schauspielern kann, aber sie bräuchte noch eine intensive Schulung. Es würde kein Honiglecken werden, hat er gesagt, sondern verdammt harte Arbeit, und ob sie sich das zutraut.»