«Ach, das! Das ist verschoben worden. Die Köchin war krank.»
«Wie dumm. Und warst du gestern bei den Naylors?»
«Ich hab sie angerufen und gesagt, ich fühl mich nicht ganz wohl und sie möchten mich entschuldigen. Sie waren ganz verständnisvoll.»
«Tatsächlich?», fragte Mrs. Bantry grimmig.
Sie setzte sich an den Schreibtisch, griff ganz in Gedanken nach einer Gartenschere und schnitt der Reihe nach die Finger ihres zweiten Handschuhs ab.
«Was machst du denn da, Dolly?»
«Meine Wut abreagieren!» Sie stand auf. «Wo wollen wir nach dem Abendessen sitzen, Arthur? In der Bibliothek?»
«Ach, äh, lieber nicht, oder? Ist doch sehr nett hier – oder im Wohnzimmer.»
«Ich würde sagen, wir setzen uns in die Bibliothek.»
Ihr ruhiger Blick begegnete seinem. Colonel Bantry richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ein Funke blitzte in seinen Augen auf.
«Du hast Recht, meine Liebe. Wir setzen uns in die Bibliothek!»
Mrs. Bantry legte mit einem ärgerlichen Seufzer den Hörer auf. Zweimal hatte sie angerufen, und beide Male war die Antwort dieselbe gewesen: Miss Marple sei nicht da.
Von Natur aus ungeduldig, gab sich Mrs. Bantry nicht so schnell geschlagen. In rascher Folge rief sie den Pfarrer, Mrs. Price Ridley, Miss Hartnell, Miss Wetherby und – als letzte Hoffnung – den Fischhändler an, der dank seiner günstigen geografischen Lage stets wusste, wo sich die Dorfbewohner aufhielten.
Es tue ihm Leid, sagte er, aber er habe Miss Marple heute Vormittag noch gar nicht gesehen. Sie habe nicht ihren üblichen Rundgang gemacht.
«Wo kann die Frau nur sein?», fragte Mrs. Bantry laut und unwillig.
Ein ehrerbietiges Hüsteln ertönte hinter ihr, und der diskrete Lorrimer murmelte: «Sie suchen Miss Marple, Madam? Sie kommt soeben auf das Haus zu.»
Mrs. Bantry eilte zur Haustür, riss sie auf und begrüßte Miss Marple atemlos. «Ich hab dich überall gesucht! Wo warst du denn?» Sie sah über die Schulter zurück. Lorrimer hatte sich diskret zurückgezogen. «Das ist alles so schrecklich! Die Leute fangen an, Arthur zu schneiden. Er wirkt um Jahre gealtert. Wir müssen etwas tun, Jane! Du musst was tun!»
«Mach dir mal keine Sorgen», sagte Miss Marple in merkwürdigem Tonfall.
Colonel Bantry erschien in der Tür des Arbeitszimmers. «Ah, Miss Marple», sagte er, «guten Morgen. Gut, dass Sie kommen. Mein Frau hat wie verrückt nach Ihnen herumtelefoniert.»
«Ich dachte, ich sage es euch besser selbst.» Miss Marple folgte Mrs. Bantry ins Arbeitszimmer.
«Was denn?»
«Basil Blake ist gerade wegen Mordes an Ruby Keene verhaftet worden.»
«Basil Blake?», rief der Colonel.
«Aber er war’s nicht», sagte Miss Marple.
Colonel Bantry nahm diese Äußerung nicht zur Kenntnis. Es war fraglich, ob er sie überhaupt gehört hatte.
«Wollen Sie damit sagen, er hat das Mädchen erwürgt und sie dann hierher geschafft und in meine Bibliothek gelegt?»
«Er hat sie zwar in Ihre Bibliothek gelegt, aber er hat sie nicht umgebracht.»
«Unsinn! Wenn er sie in meine Bibliothek gelegt hat, dann hat er sie auch umgebracht! Das eine hängt doch mit dem anderen zusammen.»
«Nicht unbedingt. Er hat sie tot in seinem Haus gefunden.»
«Das kann er seiner Großmutter erzählen!», sagte der Colonel höhnisch. «Wer eine Leiche findet, der ruft die Polizei – wenn er ein Ehrenmann ist, jedenfalls.»
«Na», sagte Miss Marple, «wir haben nun mal nicht alle Nerven wie Drahtseile, so wie Sie, Colonel Bantry. Sie sind eben ein Mann vom alten Schlag. Die jüngere Generation ist anders.»
«Kein Stehvermögen» – ein wohl bekannter Ausspruch des Colonels.
«Aber manche», sagte Miss Marple, «haben viel durchgemacht. Ich habe einiges über Basil Blake erfahren. Er war beim Luftschutz, als er erst achtzehn war. Hat vier Kinder aus einem brennenden Haus gerettet, eines nach dem anderen. Ist noch ein fünftes Mal hinein, wegen eines Hundes, obwohl man ihn gewarnt hat. Das Haus ist über ihm eingestürzt. Man konnte ihn herausholen, aber sein Brustkorb war zerschmettert. Er musste fast ein Jahr in Gips liegen und war danach noch lange krank. Da fing er an, sich fürs Entwerfen und Konstruieren zu interessieren.»
«Ach!» Der Colonel hustete und putzte sich die Nase. «Ich, äh – das wusste ich ja gar nicht.»
«Er redet nicht darüber.»
«Hm – sehr gut. Richtige Einstellung. Steckt wohl mehr in dem Burschen, als ich dachte. Dachte immer, er hätte sich vorm Krieg gedrückt. Zeigt, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte.» Colonel Bantry schien beschämt.
«Aber trotzdem» – seine Empörung flammte wieder auf – «wieso wollte er ausgerechnet mir einen Mord anhängen?»
«So hat er das wohl nicht gesehen», sagte Miss Marple. «Für ihn war es eher ein – ein Scherz. Er stand zu diesem Zeitpunkt stark unter Alkoholeinfluss, wissen Sie.»
«Hatte einen in der Krone, wie?» Colonel Bantry hegte die Sympathie des Engländers für alkoholische Exzesse. «Tja, man kann einen Mann nicht danach beurteilen, was er tut, wenn er betrunken ist. In Cambridge hab ich mal einen gewissen Gegenstand – na ja, tut nichts zur Sache. Gab einen Riesenkrach deswegen.»
Er lachte in sich hinein, nahm sich aber sofort wieder zusammen und musterte Miss Marple scharf. «Sie glauben nicht, dass er den Mord begangen hat, wie?»
«Ich bin mir sicher, dass er’s nicht war.»
«Aber Sie glauben zu wissen, wer es war?»
Miss Marple nickte.
«Ist sie nicht großartig?», rief Mrs. Bantry nach Art eines verzückten griechischen Chors der gleichgültigen Welt zu.
«Und wer?»
«Ich wollte Sie um Hilfe bitten», sagte Miss Marple. «Ich denke, wenn wir zum Einwohneramt gehen, können wir uns ein sehr viel besseres Bild machen.»
Siebzehntes Kapitel
Sir Henry machte ein sehr ernstes Gesicht. «Das gefällt mir nicht», sagte er.
«Ich bin mir dessen bewusst», sagte Miss Marple, «dass Sie es nicht gerade orthodox nennen würden. Aber es ist außerordentlich wichtig, nicht wahr, ganz sicherzugehen – ‹doch mach ich doppelt sicher Sicherheit›, wie Shakespeare sagt. Wenn Mr. Jefferson also einverstanden wäre…»
«Was ist mit Harper? Sollte er nicht eingeweiht werden?»
«Es könnte unangenehm für ihn werden, zu viel zu wissen. Aber Sie können ihm ja einen Wink geben – dass er bestimmte Personen beobachten lassen, ihnen auf den Fersen bleiben sollte, verstehen Sie?»
«Ja, damit wäre der Sache gedient…», sagte Sir Henry nachdenklich.
Superintendent Harper sah Sir Henry Clithering durchdringend an. «Um Missverständnisse auszuschließen, Sir: Sie möchten mir einen Wink geben?»
«Ich teile Ihnen mit, was mein Freund mir soeben mitgeteilt hat; er hat es mir nicht im Vertrauen gesagt. Er beabsichtigt, morgen einen Anwalt in Danemouth aufzusuchen, um ein neues Testament aufzusetzen.»
Harpers buschige Brauen senkten sich tief über die ruhigen Augen. «Hat Mr. Jefferson vor, seinen Schwiegersohn und seine Schwiegertochter davon zu unterrichten?»
«Ja, heute Abend.»
«Aha.» Der Superintendent trommelte mit einem Federhalter auf den Tisch. «Aha», wiederholte er. Wieder sah er den anderen scharf an und sagte: «Sie geben sich also nicht mit der Anklage gegen Basil Blake zufrieden?»
«Sie etwa?»
Des Superintendents Schnurrbart zitterte. «Und Miss Marple?», fragte er.
Die beiden Männer blickten einander an. Dann sagte Harper: «Sie können sich auf mich verlassen. Ich werde Leute abstellen. Alles wird vorschriftsmäßig ablaufen, das verspreche ich Ihnen.»