«Da wäre noch etwas», sagte Sir Henry. «Sehen Sie sich das an.» Er entfaltete einen Zettel und schob ihn über den Tisch.
Diesmal verließ den Superintendent die gewohnte Ruhe. Er stieß einen Pfiff aus. «So ist das also? Das rückt die Sache in ein ganz anderes Licht. Wo haben Sie das her?»
«Frauen», erwiderte Sir Henry, «werden nie aufhören, sich für alles zu interessieren, was mit dem Heiraten zusammenhängt.»
«Vor allem allein stehende ältere Frauen», sagte Superintendent Harper.
Conway Jefferson blickte auf, als sein Freund eintrat.
Sein grimmiges Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. «Ich hab’s ihnen gesagt. Sie haben es sehr gut aufgenommen», berichtete er.
«Und was hast du gesagt?»
«Dass ich finde, ich sollte die fünfzigtausend Pfund, die ich Ruby zugedacht hatte, jetzt, da sie tot ist, für einen Zweck stiften, den ich mit der Erinnerung an sie verbinden kann – ein Wohnheim für junge Berufstänzerinnen in London. Blödsinnige Idee – erstaunlich, dass sie’s geschluckt haben. Als ob ich so etwas je tun würde!
Weißt du, ich war ein Narr, was dieses Mädchen anbelangt», fuhr er nachdenklich fort. «Werde wohl langsam senil. Jetzt ist mir das klar. Sie war ein hübsches Kind, aber was ich in ihr gesehen habe, das habe ich größtenteils selbst in sie hineingelegt. Sie war wie eine zweite Rosamund für mich. Die gleichen Farben, verstehst du? Aber nicht das gleiche Herz, nicht der gleiche Kopf. Gib mir mal die Zeitung da – da steht ein hochinteressantes Bridgeproblem drin.»
Sir Henry ging in die Halle hinunter und wandte sich mit einer Frage an den Portier.
«Mr. Gaskell, Sir? Er ist soeben mit dem Wagen weggefahren. Musste nach London.»
«Ah. Und Mrs. Jefferson? Ist sie irgendwo in der Nähe?»
«Mrs. Jefferson hat sich soeben auf ihr Zimmer zurückgezogen, Sir.»
Sir Henry warf einen Blick in den Gesellschaftsraum und in den Ballsaal. Im Gesellschaftsraum brütete Hugo McLean über einem Kreuzworträtsel, im Ballsaal lächelte Josie tapfer einem dicken, schwitzenden Mann zu, während ihre Füße geschickt seinem zerstörerischen Tritt auszuweichen suchten. Der dicke Mann genoss den Tanz sichtlich. Raymond tanzte elegant und lustlos mit einem anämisch wirkenden Mädchen mit Polypen, glanzlosem braunem Haar und einem teuren, überaus unvorteilhaften Kleid.
«Dann also zu Bett», murmelte Sir Henry vor sich hin und ging hinauf.
Es war drei Uhr. Der Wind hatte sich gelegt, und über dem ruhigen Meer schien der Mond.
Conway Jefferson lag gegen die Kissen gelehnt im Bett, und außer seinen tiefen Atemzügen war im Zimmer kein Laut zu hören.
Kein Windhauch konnte die Vorhänge bewegen, und doch bewegten sie sich… Sie teilten sich einen Moment, und eine Silhouette zeichnete sich im Mondlicht ab. Dann schlossen sie sich wieder. Alles war still, doch jetzt war noch jemand im Zimmer.
Näher und näher schlich sich der Eindringling ans Bett. Die Atemzüge auf dem Kissen gingen gleichmäßig weiter.
Kein Geräusch war zu hören, oder kaum ein Geräusch. Ein Zeigefinger und ein Daumen senkten sich auf eine Hautfalte herab, die andere Hand hielt die Spritze bereit.
Plötzlich kam eine Hand aus dem Dunkel und schloss sich um die Hand mit der Spritze. Ein Arm legte sich eisern um die Gestalt, und eine nüchterne Stimme, die Stimme des Gesetzes, sagte: «Haiti Her mit der Spritze!»
Licht flammte auf, und aus den Kissen blickte Conway Jefferson grimmig in das Gesicht des Mörders von Ruby Keene.
Achtzehntes Kapitel
Sir Henry Clithering sagte: «Um mit Watson zu sprechen: Ich würde gern Ihre Methoden kennen lernen, Miss Marple.»
Superintendent Harper sagte: «Und ich wüsste gern, wie Sie darauf gekommen sind.»
Colonel Melchett sagte: «Haben Sie’s wieder mal geschafft! Sie müssen uns alles erzählen, von Anfang an.»
Miss Marple strich die braunrote Seide ihres besten Abendkleides glatt. Sie lächelte errötend und schien sich sehr unbehaglich zu fühlen.
«Sie werden meine ‹Methoden›, wie Sir Henry sie nennt, schrecklich dilettantisch finden, fürchte ich. Sehen Sie, es ist doch so, dass die meisten Leute – und Polizisten machen da keine Ausnahme – viel zu vertrauensvoll für diese schlechte Welt sind. Sie glauben einfach, was man ihnen sagt. Ich nicht. Ich möchte es immer erst nachprüfen.»
«Der wissenschaftliche Ansatz», sagte Sir Henry.
«In unserem Fall», fuhr Miss Marple fort, «hat man gewisse Dinge von vornherein als gegeben hingenommen, statt sich strikt an die Fakten zu halten. Und die Fakten waren für mich, dass das Opfer sehr jung war, dass es Nägel gekaut hat und dass es etwas vorstehende Zähne hatte, wie viele junge Mädchen, wenn das Gebiss nicht beizeiten korrigiert wird – aber Kinder sind da sehr unartig und nehmen ihre Zahnspangen heraus, wenn die Erwachsenen nicht in der Nähe sind.
Aber ich schweife ab. Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja. Ich habe mir also das tote Mädchen angesehen, voller Bedauern, denn es ist immer traurig, wenn ein so junges Leben ausgelöscht wird. Wer das getan hatte, musste ein sehr böser Mensch sein. Dass sie in Colonel Bantrys Bibliothek gefunden wurde, war verwirrend, viel zu romanhaft, um wahr zu sein. Das ergab ein ganz falsches Bild. Aber so war es ja auch nicht gedacht gewesen, daher unsere Verwirrung. Ursprünglich sollte die Leiche dem armen Basil Blake untergeschoben werden, zu dem das Mädchen auch viel besser gepasst hätte. Dass der sie dann in Colonel Bantrys Bibliothek brachte, hat alles Weitere stark verzögert und muss dem wahren Mörder äußerst unangenehm gewesen sein.
Ursprünglich hätte also Mr. Blake als Erster verdächtigt werden müssen. Man hätte in Danemouth nachgeforscht und herausgefunden, dass er Ruby kannte und auch noch zu einem anderen Mädchen Kontakt aufgenommen hatte. Man wäre davon ausgegangen, dass Ruby ihn erpressen wollte oder dergleichen und dass er sie in einem Wutanfall erwürgt hatte. Ein ganz normales, erbärmliches Halbweltverbrechen, wie ich es nenne!
Aber es kam alles anders, und so hat sich das Interesse viel zu früh auf die Jeffersons konzentriert zum großen Ärger einer gewissen Person.
Ich bin, wie gesagt, ein misstrauischer Mensch. Mein Neffe Raymond meint (im Scherz natürlich und ganz liebevoll), ich hätte wie die meisten Viktorianer eine abgrundtief schlechte Phantasie. Ich kann dazu nur sagen: Wir Viktorianer kennen die menschliche Natur eben recht gut.
Da also eine schlechte Phantasie auch ihr Gutes hat, habe ich mir als Erstes den finanziellen Aspekt der Sache angesehen. Zwei Menschen konnten vom Tod des Mädchens profitieren, so viel stand fest. Fünfzigtausend Pfund sind eine Menge Geld, besonders wenn man wie die beiden in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Aber es waren nette, angenehme Leute, denen man so etwas nie zugetraut hätte. Nur – man weiß nie, nicht wahr?
Mrs. Jefferson zum Beispiel – jeder mochte sie. Doch diesen Sommer war eine große Unruhe in ihr aufgekommen. Sie hatte das Leben, das sie führte, die völlige Abhängigkeit von ihrem Schwiegervater satt. Von seinem Arzt wusste sie aber, dass er nicht mehr lange zu leben hat, und so war sie, herzlos gesagt, ganz beruhigt – oder sie wäre es gewesen, wenn Ruby Keene nicht auf der Bildfläche erschienen wäre. Mrs. Jefferson hätte alles für ihren Sohn getan – manche Frauen haben ja die kuriose Vorstellung, dass ein Verbrechen, das man seinen Kindern zuliebe begeht, geradezu moralisch gerechtfertigt ist. Einer ähnlichen Haltung bin ich auf dem Dorf schon mehrmals begegnet. ‹Sie hat’s doch für Daisy getan, Miss›, heißt es dann, als würde fragwürdiges Verhalten dadurch weniger fragwürdig. Sehr laxe Moral.