Und doch passte der Raum zu der Frau, die ihr und Javindhra gegenübersaß. »Auffallend« war genau die richtige Bezeichnung für ihr Erscheinungsbild. Tsutama war eine atemberaubend schöne Frau, ihr Haar wurde von einem feinen Goldnetz gehalten, an ihrem Hals und an den Ohren baumelten Feuertropfen, wie immer war sie in blutrote Seide gekleidet, die ihren vollen Busen zur Geltung brachte und ihn heute mit goldenen Rankenstickereien zusätzlich betonte. Hätte man sie nicht gekannt, hätte man auf den Gedanken kommen können, dass sie Männer anziehen wollte. Tsutama hatte ihren Abscheu vor Männern lange Zeit vor ihrem Exil allgemein bekannt gemacht; sie hätte eher einem tollwütigen Hund Gnade erwiesen als einem Mann.
Damals war sie so hart wie ein Hammer gewesen, aber viele hatten sie nach ihrer Rückkehr in die Weiße Burg für ein zerbrochenes Schilfrohr gehalten. Zumindest eine Zeit lang. Dann hatte jeder, der sich in ihrer Nähe aufhielt, erkannt, dass diese ständig umherhuschenden Augen alles andere als Nervosität verkündeten. Das Exil hatte sie verändert, aber es hatte sie nicht weicher gemacht. Diese Augen gehörten einer jagenden Raubkatze, die nach Feinden oder Beute Ausschau hielt. Der Rest von Tsutamas Gesicht zeigte keine abgeklärte Ruhe, sondern stellte eine unleserliche Maske dar. Zumindest bis man sie wütend machte. Aber selbst dann blieb ihre Stimme so ruhig wie Eis. Eine entnervende Kombination.
»Ich habe heute Morgen beunruhigende Gerüchte über die Schlacht bei den Quellen von Dumai gehört«, sagte sie unvermittelt. »Verdammt beunruhigend.« Sie hatte jetzt die Angewohnheit, lange zu schweigen, nie zu plaudern, und plötzlich unerwartete Feststellungen zu machen. Das Exil hatte auch ihre Ausdrucksweise derb gemacht. Der abgelegene Bauernhof, auf dem man sie unter Arrest gestellt hatte, musste eine… lebhafte… Erfahrung gewesen sein. »Einschließlich der Tatsache, dass drei der toten Schwestern aus unserer Ajah waren. Mutters Milch in einem Becher!« Das alles in einem völlig unbewegten Tonfall. Aber ihre Augen blickten sie anklagend an.
Pevara erwiderte den Blick ungerührt. Jeder von Tsutamas Blicken erschien anklagend, und ob Pevara nun nervös war oder nicht, sie wusste es besser, als es die Oberste ihrer Ajah sehen zu lassen. Die Frau stürzte sich wie ein Falke auf Schwächen. »Ich kann nicht verstehen, warum Katerine Euren Befehl missachten sollte, ihr Wissen für sich zu behalten, und Ihr könnt nicht glauben, dass Tarna Elaida diskreditieren würde.« Jedenfalls nicht öffentlich. Tarna hütete ihre Ansichten über Elaida so sorgfältig wie eine Katze ein Mauseloch. »Aber Schwestern erhalten Berichte von ihren Augen-und-Ohren. Wir können nicht verhindern, dass sie erfahren, was passiert ist. Ich bin überrascht, dass es so lange gedauert hat.«
»So ist es«, fügte Javindhra hinzu und glättete die Röcke.
Die kantige Frau trug außer ihrem Großen Schlangenring keinerlei Schmuck, ihr Kleid war schmucklos und in einem so dunklen Rot, dass es beinahe wie Schwarz erschien. »Früher oder später werden die Fakten bekannt werden, und wenn wir uns bemühen, bis unsere Finger bluten.« Ihr Mund war so verkniffen, dass sie etwas abzubeißen schien, dennoch klang sie beinahe zufrieden. Seltsam. Sie war Elaidas Schoßhündchen.
Tsutamas Blick richtete sich auf sie, und nach einem Moment stieg Röte in Javindhras Wangen auf. Sie trank einen großen Schluck Tee, vielleicht als Vorwand, den Blickkontakt zu brechen. Natürlich aus einer Tasse aus getriebenem Gold mit fein ziselierten Leoparden und Hirschen, so wie Tsutama nun war. Die Oberste starrte weiter stumm, aber Pevara vermochte nicht mehr zu sagen, ob sie auf Javindhra blickte oder etwas jenseits von ihr.
Als Katerine die Nachricht überbracht hatte, dass Galina zu den Toten von den Quellen von Dumai gehörte, hatte man Tsutama fast einstimmig erhoben, um sie zu ersetzen. Sie hatte einen guten Ruf als Sitzende gehabt, zumindest vor ihrer Verwicklung in die widerwärtigen Vorfälle, die zu ihrem Sturz führten, und viele der Roten waren der Ansicht, dass die Zeiten nach einer Obersten verlangten, die so hart war, wie man sie nur finden konnte. Galinas Tod hatte eine große Last von Pevaras Schultern genommen — die Oberste, eine Schattenfreundin; oh, das war eine schlimme Qual gewesen! — und doch war sie sich unsicher, was Tsutama betraf. Da war jetzt etwas… Wildes… an ihr. Etwas Unberechenbares. War sie noch geistig gesund? Andererseits konnte man diese Frage auf die ganze Weiße Burg ausdehnen. Wie viele der Schwestern waren wirklich noch geistig gesund?
Als würde Tsutama ihre Gedanken lesen können, richtete sie ihren starren Blick nun auf sie. Er ließ Pevara nicht erröten oder zusammenzucken wie so viele andere außer Javindhra, aber sie ertappte sich bei dem Wunsch, dass Duhara anwesend gewesen wäre, nur um der Obersten eine dritte Sitzende zu geben, die sie anstarren konnte. Sie wünschte sich, sie wüsste, wo die Sitzende hingereist war und warum, wo doch außerhalb von Tar Valon ein Rebellenheer sein Lager aufgeschlagen hatte. Duhara war vor über einer Woche einfach an Bord eines Schiffes gegangen und abgereist, ohne jemandem auch nur ein Wort zu sagen — soweit Pevara wusste —, und niemand schien zu wissen, ob sie nach Norden oder Süden gefahren war. In diesen Tagen stimmte fast jeder und alles Pevara misstrauisch.
»Habt Ihr uns wegen des Briefes kommen lassen, Oberste?«, sagte sie schließlich. Sie erwiderte den beunruhigenden Blick gelassen, verspürte aber langsam das Verlangen in sich aufsteigen, einen tiefen Schluck aus ihrer viel zu protzigen Tasse zu nehmen, und sie wünschte sich, sie würde Wein enthalten statt Tee. Bewusst stellte sie die Tasse auf der schmalen Stuhllehne ab. Der Blick ihres Gegenübers erweckte in ihr das Gefühl, Spinnen würden über ihre Haut krabbeln.
Nach einem sehr langen Moment fiel Tsutamas Blick auf den Brief auf ihrem Schoß. Allein ihre Hand verhinderte, dass er sich zu einem kleinen Zylinder aufrollte. Er war auf sehr dünnem Papier geschrieben worden, das man für Brieftauben benutzte, und die kleinen, mit Tinte geschriebenen Buchstaben, die deutlich durch das Papier durchschimmerten, schienen die Seite vollständig auszufüllen.
»Er kommt von Sashalle Anderly«, sagte sie, was bei Pevara ein winziges, mitleidvolles Zucken und bei Javindhra ein Grunzen hervorrief, das alles Mögliche bedeuten konnte. Die arme Sashalle. Tsutama fuhr jedoch ohne jedes äußere Zeichen von Mitgefühl fort. »Die verdammte Frau glaubt, dass Galina entkommen ist, weil er an sie adressiert ist. Vieles von dem, was sie schreibt, bestätigt lediglich, was wir bereits aus anderen Quellen wissen, Toveine eingeschlossen. Aber sie behauptet allen Ernstes, dass sie ›das Kommando über die meisten Schwestern in Cairhien‹ hat, ohne sie namentlich zu benennen.«
»Wie kann Sashalle das Kommando über irgendwelche Schwestern haben?« Javindhra schüttelte den Kopf, ihre Miene bestritt diese Möglichkeit. »Könnte sie den Verstand verloren haben?«
Pevara schwieg. Tsutama gab Antworten, wenn sie dazu Lust hatte, und nur selten, wenn man sie darum bat. Toveines früheren Briefe, die ebenfalls an Galina adressiert gewesen waren, hatten Sashalle mit keinem Wort erwähnt, oder die anderen beiden Gedämpften, was das anging, aber natürlich hätte sie das ganze Thema mehr als nur widerwärtig gefunden. Allein schon daran zu denken war, als würde man verfaulte Pflaumen essen. Die meisten ihrer Worte hatten Elaida die Schuld für die Geschehnisse gegeben, wenn allerdings auch nur indirekt.
Tsutamas Blick fuhr wie ein Dolchstoß zu Javindhra, aber sie fuhr ohne Pause fort. »Sashalle berichtet von Toveines verdammten Besuch in Cairhien mit den anderen Schwestern und den verfluchten Asha'man, obwohl sie offensichtlich nichts von dem verdammten Bund weiß. Sie fand das alles sehr seltsam, Schwestern, die auf angespannte und doch oft freundliche Weise‹ mit den Asha'man verkehren. Blut und verfluchte Asche! So drückt sie es aus, soll man mich doch zu Asche verbrennen.« Tsutamas Tonfall, der dazu gepasst hätte, den Preis von Spitze zu diskutieren, und der in direktem Gegensatz zur Intensität ihres Blickes und ihrer Ausdrucksweise stand, verriet nichts davon, was sie von der Sache hielt.