Tylees Hand zuckte, als wollte sie eines dieser Zeichen gegen das Böse machen. »Es ist eine gute Zusammenfassung.« Sie sagte es zu Perrin, nicht zu Annoura. Der Seanchanerin schien es schwerzufallen, mit einer Aes Sedai zu sprechen. »Bis auf den Teil mit dem Guten. Eidbrechen und Desertation sind nichts Gutes.«
»Ich nehme an, sie bewegen sich nicht auf Euch zu, oder Ihr hättet es gesagt.« Perrin ließ es leicht fragend klingen, aber für ihn bestand da kein Zweifel.
»Nach Norden«, antwortete Tylee. »Sie reiten nach Norden.« Balwer wollte wieder etwas sagen, aber er schloss deutlich hörbar den Mund.
»Wenn Ihr einen Rat habt«, sagte Perrin zu ihm, »dann raus damit. Aber mir ist egal, wie viele Weißmäntel von den Seanchanern desertiert sind. Mich interessiert nur Faile. Und ich glaube nicht, dass die Bannergeneralin die Chance, drei oder vierhundert Damane an die Leine legen zu können, aufgeben wird, um ihnen hinterherzujagen.« Berelain verzog das Gesicht. Annouras Miene blieb ausdruckslos, aber sie nahm einen großen Schluck Wein. Keiner der Aes Sedai gefiel dieser Teil des Plans. Den Weisen Frauen auch nicht.
»Das werde ich nicht tun«, sagte Tylee fest. »Ich glaube, ich nehme doch etwas Wein.« Breane holte tief Luft, bevor sie gehorchte, und ein Hauch von Furcht trat in ihren Geruch. Anscheinend schüchterte die hochgewachsene Schwarze sie ein.
»Ich will nicht abstreiten, dass es mir gefallen würde, einen Schlag gegen die Weißmäntel zu führen«, sagte Balwer in dieser staubtrockenen Stimme, »aber um die Wahrheit zu sagen, schulde ich diesem Galad Damodred Dank.« Vielleicht galt sein Hass diesem Valda persönlich. »Wie dem auch sei, Ihr braucht meinen Rat nicht. Die Ereignisse in Maiden haben angefangen, und selbst wenn dem nicht so wäre, bezweifle ich, dass Ihr Euch auch nur noch einen Tag lang zurückhalten würdet. Und ich hätte auch nicht dazu geraten, mein Lord. Falls ich so offen sein darf, ich mag Lady Faile sehr.«
»Ihr dürft«, sagte Perrin. »Bannergeneralin, Ihr habt etwas von zwei Neuigkeiten gesagt?«
Die Seanchanerin nahm von Breane den angebotenen Weinpokal entgegen und sah ihn so geradeheraus an, dass ersichtlich war, dass sie die anderen im Zelt nicht ansehen wollte. »Können wir allein sprechen?«, fragte sie leise.
Berelain rauschte über den Teppich, legte ihm eine Hand auf den Arm und lächelte zu ihm hoch. »Annoura und ich haben nichts dagegen zu gehen«, sagte sie. Beim Licht, wie konnte nur jemand glauben, dass zwischen ihnen etwas war? Sie war so schön wie immer, ja, aber der Geruch, der an eine jagende Raubkatze gemahnte, war schon so lange bei ihr verschwunden, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte. Das Fundament ihres Geruchs war jetzt Geduld und Entschlossenheit. Sie hatte akzeptiert, dass er Faile liebte und nur Faile, und sie schien seine Entschlossenheit zu teilen, Faile zu befreien.
»Ihr könnt bleiben«, sagte er. »Was auch immer Ihr zu sagen habt, Bannergeneralin, Ihr könnt es vor jedem hier Anwesenden sagen.«
Tylee zögerte, warf Annoura einen Blick zu. »Zwei große Gruppen Aiel marschieren auf Maiden zu«, sagte sie schließlich zögernd. »Eine aus dem Südosten, eine aus dem Südwesten. Die Morat’raken schätzen, dass sie in drei Tagen hier sein könnten.«
Plötzlich schien alles in Perrins Sichtweite Wellen zu schlagen. Er fühlte, wie er selbst Wellen schlug. Breane stieß einen Schrei aus und ließ den Weinkrug fallen. Die Welt schlug erneut Wellen, und Berelain griff nach seinem Arm. Tylees Hand schien in dieser seltsamen Geste erstarrt zu sein, Daumen und Zeigefinger bildeten einen Halbmond. Alles schlug ein drittes Mal Wellen, und Perrin fühlte sich, als bestünde er aus Nebel, als wäre die Welt aus Nebel und ein Sturmwind brauste heran. Berelain zitterte, und er legte einen tröstenden Arm um sie. Sie klammerte sich zitternd an ihm fest. Schweigen und der Geruch von Furcht erfüllten das Zelt. Draußen ertönten Stimmen, und auch sie klangen furchterfüllt.
»Was war das?«, wollte Tylee schließlich wissen.
»Ich weiß es nicht.« Annouras Miene blieb gelassen, aber ihre Stimme war unsicher. »Beim Licht, ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Es spielt keine Rolle, was es war«, sagte Perrin zu ihnen. Er ignorierte ihre Blicke. »In drei Tagen wird alles vorbei sein. Das ist das Einzige, was zählt.« Faile war das Einzige, das zählte.
Die Sonne stand noch nicht im Zenit, aber Faile war bereits entnervt. Das Wasser für Sevannas Morgenbad — sie badete jetzt zweimal täglich! — war nicht heiß genug gewesen, und Faile war zusammen mit allen anderen geschlagen worden, dabei waren sie und Alliandre nur da gewesen, um der Frau den Rücken zu waschen. Mehr als zwanzig der Feuchtländer-Gai’schain hatten seit Sonnenaufgang gebettelt, den Treueid schwören zu dürfen. Drei von ihnen hatten einen Aufstand vorgeschlagen, hatten darauf hingewiesen, dass es in diesen Zelten mehr Gai’schain als Shaido gab. Allem Anschein nach hatten sie zugehört, als sie sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass fast alle diese Aiel mit einem Speer umgehen konnten, während die meisten Feuchtländer Bauern oder Handwerker waren. Nur wenige von ihnen hatten je eine Waffe in der Hand gehalten, geschweige denn eine benutzt. Allem Anschein nach hatten sie zugehört, aber das war das erste Mal, dass jemand so etwas direkt nach dem Schwören des Eides vorgeschlagen hatte. Für gewöhnlich brauchten sie ein paar Tage dazu, um den Mut aufzubringen. Der Druck erhöhte sich. Auf ein Massaker zu, wenn sie es nicht verhindern konnte. Und jetzt das hier…
»Es ist nur ein Spiel, Faile Bashere«, sagte Rolan und überragte sie, während sie eine der schlammigen Straßen zwischen den Shaido-Zelten entlanggingen. Er klang amüsiert, und ein ganz kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Er war ein schöner Mann, keine Frage.
»Ein Kussspiel, habt Ihr gesagt.« Sie rückte die gestreiften Handtücher auf ihrem Arm zurecht, damit er seine Aufmerksamkeit darauf lenkte. »Ich muss arbeiten, habe keine Zeit für Spiele. Vor allem keine Kussspiele.«
Sie konnte ein paar Aiel sehen, einige davon Männer, die schon zu dieser Stunde betrunken umhertaumelten, aber die meisten Leute auf der Straße waren Feuchtländer in schmutzigen Gai`shan-Gewändern oder Kinder, die fröhlich in den Pfützen von den schweren Regenfällen der vergangenen Nacht spielten. Auf der Straße drängten sich Männer und Frauen in schlammbeschmutztem Weiß, die Körbe, Eimer oder Töpfe trugen. Einige mussten tatsächlich arbeiten. Im Lager waren so viele Gai'schain, dass es nicht genug Arbeit für alle gab. Das hinderte keinen Shaido daran, seiner Ansicht nach müßigen Händen irgendeine Arbeit aufzutragen, und wenn es sinnlose Tätigkeiten waren. Um auf schlammigen Feldern keine nutzlosen Löcher graben oder bereits saubere Töpfe schrubben zu müssen, waren viele Gai'schain dazu übergegangen, irgendetwas zu tragen, damit sie beschäftigt aussahen. Das half keinem, echter Arbeit zu entgehen, aber es half, der anderen aus dem Weg zu gehen. Faile brauchte sich darüber keine Sorgen zu machen, nicht, solange sie die dicke Goldkette um Taille und Hals trug, aber Goldkragen und Gürtel konnten Weise Frauen nicht abschrecken. Sie hatte schon für einige von ihnen saubere Töpfe geschrubbt. Und war manchmal bestraft worden, weil sie nicht verfügbar gewesen war, wenn Sevanna nach ihr verlangte. Darum die Handtücher.
»Wir könnten mit dem Kussspiel anfangen, das Kinder spielen«, sagte er, »obwohl das Pfand manchmal peinlich ist. Beim Erwachsenenspiel ist das Pfand lustig. Verlieren kann genauso schön wie Gewinnen sein.«
Sie musste lachen, obwohl sie es gar nicht wollte. Der Mann war hartnäckig. Plötzlich sah sie Galina in der Menge in ihre Richtung eilen. Sie hielt ihr weißes Seidengewand aus dem Schlamm und suchte offensichtlich jemanden. Faile hatte gehört, dass die Frau seit dem Morgen wieder Kleidung tragen durfte. Natürlich war sie nie ohne die breite Halskette und den breiten Gürtel und die Feuertropfen gegangen. Die Haare auf ihrem Kopf waren nicht länger als ein Fingernagel, und von allen Dingen hatte man darin ausgerechnet eine große rote Schleife befestigt. Es erschien unwahrscheinlich, dass sie ihre Wahl gewesen war. Allein das Gesicht, dem Faile kein Alter zuordnen konnte, überzeugte sie davon, dass Galina wirklich eine Aes Sedai war. Darüber hinaus war sie sich bei ihr in allem unsicher — abgesehen von der Gefahr, die sie darstellte. Galina entdeckte sie und blieb wie angewurzelt stehen, ihre Hände kneteten das Gewand. Die Aes Sedai musterte Rolan unsicher.