Als sie geendet hatte, wechselten die beiden Blicke und stellten die Körbe ab, um die Hände frei für die Zeichensprache der Töchter zu haben. Faile vermied es, ihnen auf die Finger zu sehen, da sie offensichtlich Privatsphäre wollten. Außerdem hätte sie ihnen sowieso nicht folgen können. Ihre Hände bewegten sich sehr schnell. Die rothaarige Bain mit ihren dunkelblauen Augen überragte sie fast um eine halbe Handspanne, die grauäugige Chiad war nur einen Fingerbreit größer. Sie waren eng befreundet, aber die beiden hatten einander als Erstschwestern adoptiert, und das schuf eine Verbindung, die näher als jede Freundschaft war.
»Wir kümmern uns um Dairaine Saighan«, sagte Chiad schließlich. »Aber das bedeutet, dass du allein in die Stadt musst.«
Faile seufzte, aber es war nicht zu ändern. Vielleicht war Rolan ja bereits wach. Er konnte sie in diesem Augenblick beobachten. Er schien immer aus dem Nichts zu erscheinen, wenn sie ihn brauchte. Sicherlich würde er nichts dagegen unternehmen, wenn sie ging, nicht wenn er versprochen hatte, sie mitzunehmen, sollte er aufbrechen. Doch so lange sie das Weiß trug, machte er sich noch Hoffnungen. Er und seine Kussspiele! Möglicherweise wollte er sie ja noch länger in ihrem Gai'sc/zairc-Gewand sehen. Wenn Männer helfen wollten, glaubten sie immer, dass nur ihre Weise die richtige war.
Bain und Chiad duckten sich in das kleine Spitzzelt, und Alliandre und Maighdin kamen heraus. Dort drinnen war wirklich kein Platz für fünf Personen. Maighdin ging um das Zelt herum und kam mit einem Korb wie dem zurück, den die beiden anderen Frauen getragen hatten. Aus jedem von ihnen quollen schmutzige Gai'sc/iain-Gewänder, was den Eindruck von schmutziger Wäsche erweckte, aber darunter befand sich Kleidung, die fast passte, ein Beil, eine Schleuder, Schnur für Fallen, Feuerstein und Stahl, Mehl, Fleisch, getrocknete Bohnen, Salz und Hefe, ein paar Münzen, die sie hatten finden können, eben alles, was sie für den Weg nach Westen zu Perrin brauchen würden. Galina würde sie aus dem Lager bringen, aber man konnte unmöglich wissen, wohin sie ihre Aes-Sedai-Angelegenheiten führen würden. Sie mussten von Anfang an unabhängig sein. Faile hielt die Aes Sedai durchaus dazu fähig, sie bei der ersten Gelegenheit im Stich zu lassen.
Maighdin stand entschlossen über ihrem Korb, das Kinn nach vorn geschoben und in den Augen einen sturen Ausdruck, aber Alliandre strahlte übers ganze Gesicht.
»Versucht, nicht zu glücklich auszusehen«, sagte Faile zu ihr. Feuchtländer-Gai'schairc lächelten nur selten, und niemals so fröhlich.
Alliandre versuchte es, aber jedes Mal, wenn sie das Lächeln unterdrückt hatte, schlich es sich zurück. »Wir flüchten heute«, sagte sie. »Es fällt schwer, nicht zu lächeln.«
»Ihr werdet schon damit aufhören, wenn Euch eine Weise Frau sieht und herausfinden will, warum Ihr glücklich seid.«
»Wir werden kaum eine Weise Frau bei den Gai'schain-Zelten oder in Maiden finden«, sagte die Frau und lächelte. Entschlossen oder nicht, Maighdin nickte.
Faile gab es auf. Ehrlich gesagt verspürte sie selbst trotz Daigian so etwas wie Ubermut. Heute war der Tag der Flucht.
Bain kam aus dem Zelt, hielt den Eingang für Chiad zurück, die ein in Decken gehülltes Bündel auf dem Rücken trug, das gerade groß genug war, um eine kleine, gekrümmte Frau sein zu können. Chiad war stark, aber sie musste sich etwas nach vorn beugen, um das Gewicht besser zu verteilen.
»Warum ist sie so still?«, fragte Faile. Sie hegte nicht die Befürchtung, dass sie Dairaine getötet hatten. Sie folgten eisern den Regeln der Gai'schain, und Gewalt war verboten. Aber die Decke hätte genauso gut voller Holz sein können, so reglos war sie.
Bain sprach leise, ein amüsiertes Funkeln in den Augen.
»Ich habe ihr übers Haar gestreichelt und ihr gesagt, dass es mich sehr aufbringen würde, wenn ich ihr wehtun müsste. Die schlichte Wahrheit, wenn man bedenkt, wie viel toh es mich kosten würde, wenn ich sie bloß schlagen würde.« Chiad kicherte. »Ich glaube, Dairaine Saighan dachte, wir würden ihr drohen. Ich glaube, sie wird sehr still sein, bis wir sie gehen lassen.« Sie schüttelte sich vor lautlosem Gelächter. Aiel-Humor war Faile noch immer so gut wie unverständlich. Aber ihr war klar, dass die beiden dafür später streng bestraft werden würden. Beihilfe bei einem Fluchtversuch war genauso schlimm wie ein Fluchtversuch selbst.
»Ich danke euch von ganzem Herzen«, sagte sie, »dir und Chiad, jetzt und für alle Zeiten. Ich habe ein großes toh.« Sie küsste Bain auf die Wange, was die Frau natürlich so rot werden ließ wie ihr Haar. Aiel waren in der Öffentlichkeit beinahe prüde zurückhaltend. Jedenfalls in gewissen Dingen.
Bain sah Chiad an, und ein schmales Lächeln trat auf ihre Lippen. »Wenn du Gaul siehst, dann sag ihm, dass Chiad die Gai'schain eines Mannes mit starken Händen ist, eines Mann es, dessen Herz aus Feuer ist. Er wird es verstehen. Ich muss ihr helfen, unsere Last an einen sicheren Ort zu bringen. Mögest du immer Wasser und Schatten finden, Faile Bashere.« Sie strich leicht mit den Fingerspitzen über Failes Wange. »Eines Tages werden wir uns wiedersehen.«
Sie ging zu Chiad hinüber und nahm das andere Ende der Decke, und sie eilten fort. Gaul mochte es verstehen, aber Faile konnte es nicht. Jedenfalls nicht das mit dem Herzen aus Feuer, und sie bezweifelte, dass Manderics Hände Chiad auch nur im mindesten interessierten. Der Mann stank aus dem Mund, und solange er nicht auf die Jagd oder einen Raubzug ging, fing er sofort nach dem Aufwachen an, sich zu betrinken. Aber sie verdrängte Gaul und Manderic aus ihren Gedanken und stemmte ihren Korb auf die Schulter. Sie hatten bereits zu viel Zeit verschwendet.
Der Himmel fing an, nach Tageslicht auszusehen, und Gai'schain bewegten sich zwischen den unterschiedlichen Zelten des Lagers in der Nähe von Maldens Mauern, eilten los, um eine Arbeit zu erledigen oder zumindest etwas zu tragen, um den Anschein zu erwecken, sie würden arbeiten, aber niemand schenkte drei Frauen in Weiß, die Wäschekörbe in Richtung der Stadttore trugen, auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Anscheinend gab es immer Wäsche zu erledigen, selbst für Sevannas Gai'schain. Es gab viel zu viele Feuchtländer-Gaf'sc/zain, als dass Faile jeden hätte kennen können, und sie sah auch kein bekanntes Gesicht, bis sie Arrela und Lacile begegneten, die mit Körben auf den Schultern von einem Fuß auf den anderen traten. Arrela war größer als die meisten Aielfrauen und dunkelhäutig; sie trug das schwarze Haar so kurz wie jede der Töchter und ging wie ein Mann. Lacile war klein und blass und schlank und trug rote Schleifen im Haar, das nicht viel länger war. Sie bewegte sich in dem Gewand ausgesprochen anmutig; in Reithosen hatte ihr Hüftschwung sogar skandalös ausgesehen. Aber ihre erleichterten Seufzer waren beinahe identisch.
»Wir glaubten schon, etwas wäre passiert«, sagte Arrela.
»Nichts, mit dem wir nicht fertig geworden wären«, erwiderte Faile.
»Wo sind Bain und Chiad?«, fragte Lacile nervös.
»Sie haben eine andere Aufgabe«, sagte Faile. »Wir gehen allein.«
Sie tauschten einen Blick aus, und diesmal war ihr Seufzen alles andere als erleichtert. Natürlich würde sich Rolan nicht einmischen. Nicht bei ihrer Flucht. Natürlich nicht.
Die eisenbeschlagenen Tore von Maiden standen weit offen, bis zu den Granitmauern geschoben, wie seit dem Tag, an dem die Stadt gefallen war. Rost hatte die breiten Eisenbeschläge braun verfärbt, und die Angeln waren so verrostet, dass es vermutlich unmöglich war, die Tore je wieder zu schließen. Tauben nisteten jetzt in den grauen Steintürmen, die sie flankierten.
Sie waren die Ersten, die eintrafen. Jedenfalls konnte Faile niemanden voraus auf der Straße sehen. Als sie durch das Tor schritten, zog sie den Dolch aus der Ärmeltasche und hielt die Klinge gegen das Handgelenk gedrückt, die Spitze nach oben.