In diesem Moment fiel Galina das erste Mal auf, dass Therava nicht allein war. Hinter ihnen standen mehrere hundert Männer, Frauen und Kinder zwischen den Bäumen, und einige der Männer trugen ausgerechnet Frauen über der Schulter. Sie schlug die Hände vor ihre Blöße, ihr Gesicht rötete sich. Die langen Tage erzwungener Nacktheit hatten sie nicht daran gewöhnt, entkleidet vor Männern stehen. Dann bemerkte sie eine andere Merkwürdigkeit. Nur eine Hand voll waren Algai'd'siswai, mit Bogenfutteralen auf den Rücken und Köchern an den Hüften, aber jeder Mann und jede Frau mit Ausnahme der Weisen Frauen trug mindestens einen Speer. Sie hatten auch ihre Gesichter verschleiert, mit Halstüchern oder auch nur einem Fetzen Stoff. Was hatte das zu bedeuten?
»Wir kehren ins Dreifache Land zurück«, sagte Therava.
»Wir werden Läufer losschicken zu jeder Septime, die sie finden können, und ihnen befehlen, ihre Feuchtländer-Gai'schain aufzugeben, alles aufzugeben, was sie müssen, und sich heimlich ins Dreifache Land aufzumachen. Wir werden unseren Clan wieder aufbauen. Die Shaido werden sich aus der Katastrophe erheben, in die Sevanna uns geführt hat.«
»Das wird Generationen dauern!«, protestierte Modarra.
Schlank und recht hübsch, aber noch größer als Therava, fast so groß wie die meisten Aielmänner, stellte sie sich Therava furchtlos entgegen. Galina konnte nicht begreifen, wie sie das schaffte. Die Frau ließ sie mit einem Blick zusammenzucken.
»Dann werden wir eben Generationen brauchen«, sagte Therava entschieden. »Wir werden uns die Zeit nehmen, die wir brauchen. Und wir werden das Dreifache Land nie mehr verlassen.« Ihr Blick glitt zu Galina. Die zusammenzuckte.
»Du wirst das hier nie wieder anfassen«, sagte sie und hob kurz den Stab. »Und du wirst nie wieder versuchen, mir zu entkommen. Sie hat einen kräftigen Rücken. Beladet sie und lasst uns aufbrechen. Möglicherweise verfolgen sie uns.«
So mit Wasserschläuchen und Töpfen und Kesseln beladen, dass sie sich fast sittsam verhüllt vorkam, stolperte Galina hinter Therava durch den Wald. Sie dachte nicht an den Stab oder an eine Flucht. Etwas in ihr war zerbrochen. Sie war Galina Casban, die Höchste der Roten Ajah, die im Obersten Rat der Schwarzen Ajah saß, und sie würde für den Rest ihres Lebens Theravas Spielzeug sein. Sie war Theravas kleine Lina. Für den Rest ihres Lebens. Tief in ihrem Inneren wusste sie das. Stumme Tränen liefen ihr übers Gesicht.
31
Das Haus in der Vollmondstraße
Sie müssen zusammenbleiben«, sagte Elayne energisch.
»Ihr beiden solltet auch nicht allein ausgehen, was das angeht. Immer zu dritt oder zu viert, in ganz Caemlyn. Nur so kann man sicher sein.« Lediglich zwei der Spiegelkandelaber waren entzündet, sechs Flammen erfüllten das Wohnzimmer mit schwachem Licht und Lilienduft — so viel von dem Lampenöl war mittlerweile verdorben, dass es fast immer parfümiert war —, aber das knisternde Feuer im Kamin fing an, etwas von der Kühle der frühen Stunde zu vertreiben.
»Es gibt Augenblicke, in denen eine Frau etwas Zeit für sich haben will«, erwiderte Sumeko ruhig, so als wäre nicht gerade eine weitere Kusine gestorben, weil sie hatte allein sein wollen. Zumindest ihre Stimme war ruhig, aber dicke Hände strichen unablässig über die dunkelblauen Röcke.
»Wenn Ihr ihnen keine Angst einjagt, Sumeko, dann werde ich es tun«, sagte Alise, und ihr für gewöhnlich so gutmütiges Gesicht war streng. Sie sah wie die ältere der beiden aus — im Gegensatz zu Sumekos glänzendem schwarzen Haar, das über die stämmigen Schultern fiel, wies das ihre graue Strähnen auf —, tatsächlich war sie fast zweihundert Jahre jünger. Alise war unerschrocken gewesen, als Ebou Dar gefallen war und sie vor den Seanchanern fliehen mussten, aber auch ihre Hände strichen nervös über die braunen Röcke.
Die von Essandes Nichte Melfane festgesetzte Schlafenszeit war schon lange vergangen, aber so müde Elayne auch war, sobald sie einmal aufwachte, konnte sie nicht mehr eins chlafen, und warme Ziegenmilch half nicht. Warme Ziegenmilch schmeckte noch grauenhafter als kalte. Sie würde dem verfluchten Rand al'Thor so lange warme verfluchte Ziegenmilch einflößen, bis sie ihm wieder aus den Ohren herauskam! Direkt nachdem sie herausgefunden hatte, was ihn so schlimm verletzt hatte, dass sie einen stechenden Schmerz in dem kleinen Knoten in ihrem Hinterkopf verspürt hatte, der ihn verkörperte und der sonst so nichtssagend wie ein Stein blieb. Seitdem war er auch wieder wie ein Stein gewesen, also ging es ihm gut, aber etwas hatte ihn so schlimm verletzt, dass sie es hatte spüren können. Und warum Reiste er so oft? An dem einen Tag war er tief im Südosten, am nächsten im Nordwesten und noch ferner, am Tag darauf irgendwo anders. Flüchtete er vor dem, der ihn verletzt hatte, wer auch immer das war? Aber sie hatte im Moment ihre eigenen Sorgen.
Ruhelos und unfähig zum Schlafen, hatte sie das Erstbeste angezogen, was zur Hand gewesen war, ein dunkelgraues Reitkleid, und war spazieren gegangen, um die Stille des Palasts in den ersten Stunden des neuen Tages zu genießen, wenn selbst die Dienerschaft im Bett war und die flackernden Fackeln außer ihr das Einzige waren, das in Bewegung war. Sie und ihre Leibwächterinnen, aber sie lernte es, ihre Anwesenheit zu ignorieren. Sie genoss die Einsamkeit, bis die beiden Frauen ihr begegnet waren und die traurige Nachricht überbracht hatten, die sonst bis zum Sonnenaufgang gewartet hätte. Sie hatte sie in das kleinere der Wohnzimmer geführt, um die Angelegenheit hinter einem Schutzgewebe gegen Lauscher ausführlich zu besprechen.
Sumeko bewegte ihre Massen in dem Lehnstuhl und starrte Alise böse an. »Reanne hat Euch die Grenzen immer wieder verschieben lassen, aber als Älteste erwarte ich…«
»Ihr seid nicht die Älteste, Sumeko«, erwiderte die kleinere Frau kühl. »Ihr habt hier die Autorität, aber den Regeln zufolge besteht das Nähkränzchen aus den dreizehn Ältesten von uns in Ebou Dar. Wir sind aber nicht mehr in Ebou Dar, also gibt es auch kein Nähkränzchen.«
Sumekos rundes Gesicht wurde so hart wie Granit. »Immerhin gebt Ihr zu, dass ich die Autorität habe.«
»Und ich erwarte von Euch, dass Ihr sie benutzt, um zu verhindern, dass noch mehr von uns ermordet werden. Es reicht nicht, es vorzuschlagen, Sumeko, ganz egal, wie nachdrücklich Ihr es auch vorschlagt. Es reicht nicht.«
»Streiten bringt uns nicht weiter«, sagte Elayne. »Ich weiß, dass ihr nervös seid. Ich bin es auch.« Beim Licht, drei mit der Einen Macht ermordete Frauen in den vergangenen zehn Tagen, und vermutlich sieben davor, das reichte, um einen Amboss nervös werden zu lassen. »Aber uns anzufauchen ist das Schlimmste, was wir tun können. Sumeko, Ihr müsst ein Machtwort sprechen. Es ist mir egal, wie sehr jemand seine Privatsphäre schätzt, niemand kann auch nur eine Minute lang allein sein. Alise, benutzt Eure Überredungskünste.« Überredungskunst war nicht das richtige Wort. Alise überredete niemanden. Sie erwartete einfach, dass die Leute das taten, was sie sagte, und meistens funktionierte das auch. »Überzeugt die anderen, dass Sumeko Recht hat. Ihr beiden müsst…«
Die Tür öffnete sich und ließ Deni ein, die sie wieder hinter sich schloss und sich dann verbeugte, eine Hand auf dem Schwertgriff, die andere auf ihrer langen Keule. Die rot lackierten und mit weißen Rändern versehenen Harnische und Helme waren erst gestern geliefert worden, und die kräftige Frau hatte gelächelt, seit sie sie angelegt hatte, aber jetzt schaute sie hinter den Gesichtsstangen des Helms ernst drein. »Entschuldigt die Unterbrechung, meine Lady, aber da ist eine Aes Sedai, die Euch zu sehen verlangt. Ihrer Stola nach zu urteilen eine Rote. Ich habe ihr gesagt, dass Ihr vermutlich schlaft, aber sie war bereit, selbst hereinzukommen und Euch zu wecken.«