»Aber diese Duhara glaubt, die Wahrheit gesagt zu haben.« Ahse breitete die Hände aus. »Ich sage nicht, dass ich an Euch zweifle. Das tue ich nicht. Aber die Frau glaubt daran.«
Elayne seufzte. »Die Situation ist… kompliziert.« Das war so, als würde man sagen, Wasser ist nass. »Ich bin Aes Sedai, aber Duhara glaubt es nicht. Sie kann es nicht, weil sie dann zugeben müsste, dass Egwene al'Vere wirklich der Amyrlin-Sitz ist, und das wird Duhara nicht tun, bevor Elaida gestürzt ist.« Sie hoffte, dass Duhara es dann glauben würde. Oder es zumindest akzeptierte. Die Burg musste wieder geeint werden. »Sumeko, werdet Ihr den Kusinen befehlen, in der Gruppe zusammenzubleiben? Immer?« Die stämmige Frau murmelte ihre Zustimmung. Im Gegensatz zu Reanne hatte Sumeko kein Gespür für die Führung, und sie gefiel ihr auch nicht. Bedauerlich, dass keine ältere Kusine gekommen war, um ihr die Last abzunehmen. »Alise, Ihr sorgt dafür, dass sie gehorchen?« Alises Zustimmung kam schnell und energisch. Sie wäre die perfekte Kandidatin gewesen, hätten die Kusinen ihre Rangordnung nicht durch das Alter entschieden. »Dann haben wir getan, was wir können. Ihr solltet schon lange im Bett liegen.«
»Ihr auch«, sagte Alise, als sie aufstand. »Ich könnte Melfane kommen lassen.«
»Es ist nicht notwendig, auch ihr den Schlaf zu rauben«, sagte Elayne hastig. Und entschieden. Melfane war klein und stämmig, eine fröhliche Frau, die gern lachte, aber auch in anderer Hinsicht anders als ihre Tante war. Doch fröhlich oder nicht, die Hebamme war eine Tyrannin, die es nicht mit Wohlgefallen zur Kenntnis nehmen würde, dass sie noch wach war. »Ich schlafe, wenn ich kann.«
Nachdem sie weg waren, ließ sie Saidar los und nahm ein Buch aus dem Stapel auf der zweiten Kommode, wieder einmal eine Geschichte Andors, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Ohne die Macht war ihr mürrisch zumute. Sollte sie doch zu Asche verbrennen, sie war so müde, dass sich ihre Augen wie mit Sand gefüllt anfühlten. Aber ihr war klar, dass, wenn sie sich hinlegen würde, sie nur bis zum Sonnenaufgang an die Decke starren würde. Sie hatte die Seite nur wenige Minuten angestarrt, als Deni erneut eintrat.
»Meister Norry ist hier, meine Lady, mit diesem Hark.
Sagte, er hätte gehört, dass Ihr noch wach seid, und ob Ihr wohl ein paar Minuten Zeit für ihn hättet?«
Er hatte gehö rt, dass sie noch wach war? Wenn er sie bespitzeln ließ…! Die Bedeutung durchbrach ihre mürrische Stimmung. Hark. Er hatte Hark nicht mehr seit diesem ersten Besuch mitgebracht, und das war vor zehn Tagen gewesen. Nein, jetzt elf Tagen. Verdrossenheit wich Überschwänglichkeit. Sie befahl Deni, sie hereinzubringen, und folgte ihr bis in den Vorraum, wo ein gemusterter Teppich den größten Teil der roten und weißen Fliesen bedeckte. Auch hier waren nur ein paar Kandelaber entzündet und verbreiteten ein schwaches, flackerndes Licht und Rosenduft.
Meister Norry sah mehr denn je wie ein weißbrüstiger Watvogel aus, mit seinen langen, spindeldürren Schenkeln und den abstehenden Haarbüscheln hinter den Ohren, aber ausnahmsweise schien er einmal aufgeregt zu sein. Er rieb sich doch tatsächlich die Hände. In dieser Nacht hatte er seine Ledermappe nicht dabei; selbst in dem schwachen Licht waren die Tintenflecken auf seinem blutroten Wappenrock zu sehen. Einer hatte das Haarbüschel am Schwanz des Weißen Löwen schwarz verfärbt. Er machte eine steife Verbeugung, und der unauffällige Hark imitierte ihn unbeholfen, dann führte er noch den Knöchel an die Stirn, um sicherzugehen. Er trug ein dunkleres Braun als zuvor, aber immer noch den gleichen Gürtel. »Verzeiht die Störung zu so früher Stunde, meine Lady«, begann Norry in seinem trockenen Tonfall.
»Woher habt Ihr gewusst, dass ich noch wach bin?«, wollte sie wissen, weil ihre Gefühle wieder verrückt spielten.
Norry blinzelte, von der Frage überrascht. »Eine der Köchinnen hat erwähnt, Euch warme Ziegenmilch geschickt zu haben, als ich mir selbst welche holte, meine Lady. Ich finde warme Ziegenmilch sehr beruhigend, wenn ich nicht schlafen kann. Aber sie hat auch Wein erwähnt, also bin ich davon ausgegangen, dass Ihr Besucher habt und möglicherweise noch wach seid.«
Elayne schnaubte. Sie wollte noch immer jemanden anschreien. Das aus ihrer Stimme herauszuhalten bedurfte einer Anstrengung. »Ich nehme an, dass Ihr einen Erfolg zu vermelden habt, Meister Hark?«
»Ich bin ihm gefolgt, so wie Ihr gesagt habt, meine Lady, und er ist in drei Nächten zu demselben Haus gegangen, heute eingeschlossen. Es ist in der Vollmondstraße in der Neustadt, jawohl. Der einzige Ort, den er besucht, abgesehen von Schenken und Gemeinschaftsräumen. Er trinkt was, ja. Spielt auch oft Würfel.« Der Mann zögerte, rang nervös die Hände. »Ich kann doch jetzt gehen, nicht wahr, meine Lady? Ihr befreit mich von dem, was Ihr mir auch immer auferlegt habt, oder?«
»Dem Steuerregister zufolge gehört das Haus Lady Shiaine Avarhin, meine Lady«, sagte Norry. »Sie scheint die Letzte ihres Hauses zu sein.«
»Was könnt Ihr mir noch über diesen Ort erzählen, Meister Hark? Wer lebt dort außer Lady Shiaine?«
Hark rieb sich unbehaglich die Nase. »Nun, ich weiß nicht, ob sie dort leben, meine Lady, aber heute Nacht sind dort zwei Aes Sedai. Ich habe gesehen, wie eine von ihnen Mellar herausließ, während die andere eintrat, und die, die eintrat, sagte: ›Schade, dass wir nur zu zweit sind, Falion, so wie uns Lady Shiaine auf Trab hält.‹ Bloß hat sie ›Lady‹ so gesagt, als würde sie das gar nicht so meinen. Komisch. Sie trug eine streunende Katze, und die war genauso dürr wie sie.« Er machte eine plötzliche, nervöse Verbeugung. »Bitte um Verzeihung, meine Lady. Wollte niemanden beleidigen, so von einer Aes Sedai zu sprechen, aber ich brauchte eine Minute, um zu erkennen, dass sie Aes Sedai war. Da fiel genug Licht aus der Eingangshalle, das tat es, aber sie war so dünn und schlicht, mit einer breiten Nase, dass sie niemand auf den ersten Blick für eine Aes Sedai gehalten hätte.«
Elayne legte ihm die Hand auf den Arm. Aufregung brodelte in ihrer Stimme, und sie unterdrückte sie nicht. »Wie hat ihr Akzent geklungen?«
»Ihr Akzent, meine Lady? Nun, die mit der Katze, sie war direkt hier aus Caemlyn, würde ich sagen. Die andere… Nun, sie hat nicht mehr als zwei Sätze gesagt, aber ich würde sagen, sie war eine Kandori. Nannte die andere Marillin, wenn das hilft, meine Lady.«
Lachend tänzelte Elayne ein paar Schritte. Sie wusste jetzt, wer Mellar auf sie angesetzt hatte, und es war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Marillin Gemalphin und Falion Bhoda, zwei Schwarze Schwestern, die nach Morden aus der Burg geflohen waren. Das hatte einen Diebstahl ermöglichen sollen, aber es waren die Morde, für die sie gedämpft und hingerichtet werden würden. Um sie und die anderen in ihrer Begleitung aufzuspüren, waren Nynaeve, Egwene und sie aus der Burg losgeschickt worden. Die Schwarze Ajah hatte Mellar in ihrer unmittelbaren Nähe platziert, vermutlich nur um sie auszuspionieren, aber es war trotzdem eine furchteinflößende Vorstellung. Schlimmer, als sie gefürchtet hatte, und doch, die beiden jetzt zu finden, das war, als würde sich ein Kreis schließen.
Hark starrte sie mit offenem Mund an. Meister Norry musterte bemüht den befleckten Löwenschwanz. Sie hörte auf zu tanzen und faltete die Hände. Männer waren albern!
»Wo ist Mellar jetzt?«
»In seinem Gemach, glaube ich«, sagte Norry.
»Meine Lady, nehmt Ihr es jetzt von mir?«, bat Hark. »Und ich kann gehen? Ich habe getan, was Ihr verlangt habt.«
»Zuerst müsst Ihr uns zu diesem Haus führen«, sagte sie und schoss an ihm vorbei auf die Türflügel zu. »Dann reden wir darüber.« Sie steckte den Kopf in den Korridor und fand Deni und sieben weitere Gardistinnen zu beiden Seiten der Türen aufgereiht vor. »Deni, jemand soll Lady Birgitte so schnell wie möglich holen, und jemand anders soll die Aes Sedai wecken und sie bitten zu kommen, zusammen mit ihren Behütern und zum Ritt bereit. Dann geht Ihr und weckt so viele Gardistinnen, wie Ihr Eurer Meinung nach braucht, um Mellar festzunehmen. Ihr braucht dabei nicht zu sanft vorzugehen. Die Anklagen sind Mord und ein Schattenfreund zu sein. Sperrt ihn in einem der Vorratsräume im Keller ein, mit einer starken Wache.« Die stämmige Frau lächelte breit und fing an Befehle zu geben, als Elayne wieder hineinging.