»Hebt die Abschirmung auf«, sagte er zu ihr, als würde er Gehorsam erwarten. Karede hob die Brauen. Das sollte das Spielzeug sein? Melitene und Mylen keuchten beinahe zugleich auf, und der junge Mann lachte abgehackt. »Seht ihr, bei mir funktioniert das nicht. Und jetzt hebt Ihr verdammt noch mal die Abschirmungen auf, oder ich zerre Euch aus den Sätteln und versohle euch den Hintern.« Melitenes Gesicht verfinsterte sich. Nur wenige Leute wagten es, so zu einer Der’sul’dam zu sprechen.
»Weg mit den Abschirmungen, Melitene«, sagte Karede.
»Die Marath’’damane wollten Saidar umarmen«, sagte sie, statt zu gehorchen. »Es ist unmöglich zu sagen, was sie…«
»Weg mit den Abschirmungen«, sagte er energisch. »Und lasst die Macht los.«
Der junge Mann nickte zufrieden, dann fuhr er plötzlich herum und zeigte mit dem Finger auf die drei Aes Sedai.
»Und Ihr fangt jetzt verflucht noch mal nicht an! Sie hat die Macht losgelassen. Ihr tut das auch. Jetzt, sofort!« Wieder nickte er, als wäre er sich sicher, dass sie gehorcht hatten. So wie Melitene ihn anstarrte, war er das tatsächlich. War er vielleicht ein Asha’man? Vielleicht konnten Asha’man ja irgendwie spüren, wenn eine Damane die Macht lenkte. Das erschien zwar wenig wahrscheinlich, aber etwas anderes fiel Karede dazu nicht ein. Aber das passte kaum zu dem, wie Tylin den jungen Mann allen Berichten zufolge behandelt hatte.
»Eines Tages, Mat Cauthon«, sagte Joline giftig, »wird Euch jemand zeigen, wie man eine Aes Sedai mit dem nötigen Resp ekt behandelt, und ich hoffe, ich kann das miterleben.«
Die Hochlady und Selucia lachten schallend. Es war gut zu sehen, dass sie es geschafft hatte, trotz ihrer Gefangenschaft ihre gute Laune zu behalten. Zweifellos hatte die Kameradschaft ihrer Dienerin geholfen. Aber es war Zeit, weiterzumachen. Zeit, sein verrücktes Spiel zu wagen.
»General Merrilin«, sagte Karede, »Ihr habt einen kurzen, aber bemerkenswerten Feldzug durchgeführt und Wunder vollbracht, Eure Streitkräfte zu verstecken, aber Euer Glück nähert sich seinem Ende. General Chisen hat Eure wahren Absichten aufgedeckt. Er hat sein Heer gewendet und marschiert so schnell auf den Malvidedurchgang zu, wie er kann. Er wird in zwei Tagen hier sein. Nicht weit entfernt von hier habe ich zehntausend Mann stehen, was ausreichend ist, um Euch bis zu seiner Ankunft hier festzuhalten. Aber die Hochl ady Tuon würde in Gefahr sein, und das will ich vermeiden. Lasst mich mit ihr gehen, und ich erlaube Euch und Euren Männern den ungehinderten Abzug. Ihr könnt auf der anderen Seite des Berges sein, in der Molvainekluft, bevor Chisen eintrifft, und in Murandy, bevor er Euch fangen kann. Die einzige andere Wahl ist die Vernichtung. Chisen hat genügend Männer, um Euch auszulöschen. Es würde keine Schlacht sein. Hunderttausend Männer gegen achttausend wird ein Gemetzel sein.«
Sie hörten ihm zu, jedes Gesicht so ausdruckslos, als wären sie wie betäubt. Sie waren gut geschult. Oder vielleicht waren sie tatsächlich benommen, weil Merrilins Plan im letzten Augenblick anscheinend scheiterte.
Merrilin strich mit einem langen Finger über seinen weiß en Schnurrbart. Er schien ein Lächeln zu verbergen. »Ich fürchte, Ihr verwechselt mich, Bannergeneral Karede.« Für die Dauer eines Satzes wurde seine Stimme außerordentlich ausdrucksvoll. »Ich bin Gaukler, eine Stellung, die sicherlich höher als die eines jeden Hofbarden ist, aber kein General. Der Mann, mit dem Ihr sprechen wollt, ist Lord Matrim Cauthon.« Er machte eine kleine Verbeugung in die Richtung des jungen Mannes, der gerade den flachen schwarzen Hut wieder aufsetzte.
Karede runzelte die Stirn. Tylins Spielzeug war der Gener al? Machten sie sich über ihn lustig?
»Ihr habt etwa hundert Männer dabei, Totenwächter, und vielleicht zwanzig Gärtner«, sagte Cauthon ruhig. »Soweit ich weiß, wäre das ein fairer Kampf gegen die fünffache Zahl an einfachen Soldaten, aber die Bande besteht größtenteils nicht aus Soldaten, und ich habe bedeutend mehr als sechshundert. Was Chisen angeht, wenn das der Bursche ist, der durch den Durchgang kommt, selbst wenn er herausgefunden hat, was ich vorhabe, könnte er es nicht in weniger als fünf Tagen zurückschaffen. Den letzten Berichten meiner Späher zufolge marschiert er so schnell er kann südwestlich entlang der Ebou-Dar-Straße. Aber die Frage, die sich hier wirklich stellt, ist die folgende. Könnt Ihr Tuon sicher zum Tarasin-Palast bringen?«
Karede fühlte sich, als hätte ihn Hartha in den Bauch getreten, und das nicht nur, weil der Mann den Namen der Hochlady so zwanglos benutzte. »Ihr meint, Ihr lasst sie mich mitnehmen?«, sagte er ungläubig.
»Wenn sie Euch vertraut. Wenn Ihr sie sicher in den Palast bringen könnt. Sie ist in Gefahr, bis sie ihn erreicht. Nur für den Fall, dass Ihr es nicht wisst, Euer ganzes verdammtes Immer Siegreiches Heer ist bereit, ihr den Hals durchzuschneiden oder ihr den Schädel einzuschlagen.«
»Ich weiß«, sagte Karede ruhiger, als er sich fühlte. Warum sollte dieser Mann die Hochlady einfach freilassen, wo sich die Weiße Burg so viel Mühe gegeben hatte, sie zu entführen? Warum, nach diesem kurzen, blutigen Feldzug? »Wir werden bis zum letzten Mann sterben, wenn das nötig ist, um sie in Sicherheit zu bringen. Am besten brechen wir sofort auf.« Bevor es sich der Mann anders überlegte. Bevor er aus diesem Fiebertraum erwachte. Es kam ihm jedenfalls wie ein Fiebertraum vor.
»Nicht so schnell.« Cauthon wandte sich der Hochlady zu.
»Tuon, vertraut Ihr diesem Mann, dass er Euch sicher zum Palast in Ebou Dar bringt?« Karede unterdrückte den Impuls zusammenzuzucken. Der Mann mochte ein General und Lord sein, aber er hatte kein Recht, den Namen der Hochlady so zu benutzen!
»Ich vertraue den Totenwächtern mein Leben an«, erwiderte die Hochlady ruhig, »und ihm mehr als allen anderen.« Sie schenkte Karede ein Lächeln. Selbst als Kind hatte sie nur selten gelächelt. »Habt Ihr zufällig noch meine Puppe, Bannergeneral Karede?«
Er verneigte sich formell vor ihr. Ihre Wortwahl verriet ihm, dass sie noch immer unter dem Schleier verborgen war. »Vergebt mir, Hochlady. Ich habe alles beim großen Brand von Sohima verloren.«
»Das bedeutet, Ihr habt sie zehn Jahre lang behalten. Ihr habt mein Beileid für den Verlust Eurer Frau und Eures Sohnes, auch wenn er tapfer und gut gestorben ist. Nur wenige Männer würden ein brennendes Haus auch nur einmal betreten. Er hat fünf Menschen gerettet, bevor es ihn überwältigt hat.«
Karede verspürte einen Kloß im Hals. Sie hatte sich über ihn auf dem Laufenden gehalten. Er konnte sich nur noch einmal verbeugen, diesmal nur tiefer.
»Genug davon«, murmelte Cauthon. »Ihr werdet Euch nur den Kopf auf dem Boden stoßen, wenn Ihr so weitermacht. Sobald sie und Selucia gepackt haben, schafft Ihr sie hier weg und reitet schnell. Talmanes, ruft die Bande zusammen. Nicht, dass ich Euch nicht trauen würde, Karede, aber ich glaube, ich werde jenseits des Durchgangs besser schlafen.«
»Matrim Cauthon ist mein Ehemann«, sagte die Hochlady mit lauter, klarer Stimme. Jeder erstarrte an Ort und Stelle.
»Matrim Cauthon ist mein Ehemann.«
Karede fühlte sich schon wieder, als hätte Hartha ihn getreten. Nein, nicht Hartha. Aldazar. Was für ein Wahnsinn war das ? Cauthon sah aus wie ein Mann, der einen Pfeil auf sein Gesicht zufliegen sah und wusste, dass er nicht die geringste Chance zum Ausweichen hatte.
»Der verdammte Matrim Cauthon ist mein Ehemann. Das waren doch Eure Worte, oder nicht?« Es musste ein Fiebertraum sein.
Es dauerte eine Minute, bevor Mat sprechen konnte. Sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, es schien eine Stunde zu dauern, bevor er sich wieder bewegen konnte. Als er es konnte, riss er den Hut herunter, ging zu Tuon und packte das Zaumzeug der Rasierklinge. Sie schaute zu ihm herunter, so kühl wie eine Königin auf ihrem verdammten Thron. All diese Schlachten, in denen die verfluchten Würfel in seinem Kopf ratterten, all die Geplänkel und Stoßtrupps, und sie mussten verstummen, als sie die paar Worte sagte. Nun, wenigstens wusste er diesmal, dass das, was passiert war, verf lucht schicksalhaft für den dummen Mat Cauthon war. »Warum? Ich meine, ich wusste, dass Ihr das früher oder später tun würdet, aber warum jetzt? Ich mag Euch, vielleicht ist da sogar mehr, und es hat mir gefallen, Euch zu küssen…« — er glaubte, Karede grunzen zu hören — »… aber Ihr habt Euch nicht wie eine verliebte Frau benommen. Die eine Hälfte der Zeit seid Ihr eiskalt und den größten Teil vom Rest ärgert Ihr mich.«