Desala war eine äußerst attraktive Cairhienerin mit großen dunklen Augen und unerfreulichem Temperament, die, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte, die ganze Nacht mit unzähligen Männern bis zur Erschöpfung tanzen würde.
Und Melare, mollig und schlagfertig, die Konversation liebte, schickte für die Ausbildung ihres Großneffen Geld nach Andor, genau wie sie es auch für ihre anderen Neffen und Nichten getan hatte.
Nachdem Pevara der Suche nach solch winzigen Anhaltsp unkten müde geworden war, nachdem sie es müde geworden war, ganz behutsam Fragen zu stellen, ob es ihnen auch ernst mit dem war, was sie meinten, hatte sie Tsutama davon überzeugt, dass sechs für den Anfang reichen würden. Davon abgesehen forderte eine zu große Abordnung möglicherweise eine unerfreuliche Reaktion heraus. Sollte die ganze Rote Ajah vor dieser sogenannten Schwarzen Burg auftauchen oder auch nur die Hälfte, würden die Männer vielleicht glauben, dass man sie angriff. Keiner konnte sagen, wie weit sie schon dem Wahnsinn verfallen waren. Das war eine Sache, auf die sie sich alle geeinigt hatten, hinter Tsutamas Rücken. Sie würden sich nicht mit Männern verbinden, die Anzeichen von Umnachtung hatten. Falls man ihnen überhaupt gestattete, mit ihnen den Bund einzugehen, i Augen-und-Ohren der Ajah in Caemlyn hatten reichlich Berichte über die Schwarze Burg geschickt, einige hatten dort sogar eine Anstellung gefunden, also hatten sie keine Schwierigkeiten, den ungepflasterten, häufig benutzten Weg zu finden, der von der Stadt zu einem grandiosen schwarzen Tor führte, das fast fünfzig Fuß hoch und zehn Spannen breit war und über einem nach unten zeigenden zentralen Schlussstein von Zinnen gekrönt und von zwei dicken, zinnenbewehrten schwarzen Türmen flankiert wurde, die mindestens fünfzehn Spannen hoch waren. Es gab keine Torflügel, um diese Öffnung zu schließen, und die schwarze Steinmauer, die sich so weit nach Osten und Westen erstreckte, dass man sie aus der Sicht verlor, und in regelmäßigen Abständen durch die Fundamente von Bastionen und Türmen markiert wurde, war nirgendwo höher als vier oder fünf Schritte. Auf der unregelmäßigen Oberfläche wuchs Unkraut, der Wind strich durch hohes Gras. Diese unfertigen Mauern, die aussahen, als würde man sie nie vollenden, ließen das Tor lächerlich erscheinen.
Aber die drei Männer, die aus der Öffnung traten, waren alles andere als lächerlich. Sie trugen lange schwarze Mäntel und Schwerter an der Seite. Einer von ihnen, ein schlanker junger Bursche mit einem gewellten Schnurrbart, trug eine Silbernadel in der Form eines Schwertes an dem hohen Kragen. Einer der Geweihten also. Pevara widerstand dem Instinkt, ihn für das Äquivalent einer Aufgenommenen zu halten und die anderen beiden für Novizen. Novizinnen und Aufgenommene wurden beschützt und geleitet, bis sie sich ausreichend in der Einen Macht auskannten, um Aes Sedai zu werden. Allen Berichten zufolge betrachtete man die Soldaten und Geweihten als zur Schlacht tauglich, sobald sie gerade eben gelernt hatten, die Macht zu lenken. Und sie wurden vom ersten Tag an dazu gezwungen, unter Druck gesetzt, so viel Saidin zu ergreifen, wie sie nur konnten, dazu gebracht, es so gut wie immer zu benutzen. Männer starben daran, und sie nannten es »Ausbildungsverluste«, als könnten sie den Tod mit nichtssagenden Worten beschönigen. Der Gedanke, Novizinnen oder Aufgenommene auf diese Weise zu verlieren, drehte Pevara den Magen um, aber anscheinend hatten diese Männer damit kein Problem.
»Ich wünsche Euch einen schönen Morgen, Aes Sedai«, sagte der Geweihte mit einer kleinen Verbeugung, als sie vor ihm das Pferd zügelte. Eine sehr kleine Verbeugung, und er ließ sie dabei auch keinen Augenblick lang aus den Augen. Seinem Akzent nach zu urteilen, kam er aus Murandy. »Was könnten sechs Schwestern an diesem schönen Morgen wohl von der Schwarzen Burg wollen?«
»Den M’Hael sprechen«, erwiderte Pevara und schaffte es, nicht an dem Wort zu ersticken. In der Alten Sprache bedeutete das »Führer«, aber allein schon diesen Begriff als Titel auszuwählen, verlieh dem Wort eine viel stärkere Bedeutung, als würde er alles und jeden führen.
»Ah, um den M’Hael zu sprechen also? Und welche Ajah soll ich melden?«
»Die Rote«, erwiderte Pevara und sah ihn blinzeln. Sehr zufriedenstellend. Aber nicht sehr hilfreich.
»Die Rote«, sagte er tonlos. Die Überraschung hatte nicht lange gedauert. »Nun ja. Enkazin, al’Seen, ihr haltet Wache, während ich sehe, was der M’Hael dazu zu sagen hat.«
Er wandte ihnen den Rücken zu, und der vertikale silberne Strich eines Wegetors erschien vor ihm und verbreiterte sich zu einer Öffnung, die nicht größer als eine Tür war. Konnte er sie nur so groß machen? Es hatte eine lange Diskussion darüber gegeben, ob man sich mit Männern verbinden sollte, die so stark oder so schwach wie möglich waren. Die Schwachen würde man möglicherweise leichter kontrollieren können, während die Starken vermutlich — nein, bestimmt — nützlicher waren. Sie hatten keine Einigung erzielt; das musste jede Schwester für sich selbst entscheiden. Er eilte durch das Wegetor und schloss es wieder, bevor sie mehr sehen konnte als eine weiße Steinplattform, zu der seitlich Stufen hinaufführten und auf der ein rechteckiger schwarzer Stein thronte, der von der Mauer hätte stammen können und der auf Hochglanz poliert worden war.
Die zwei zurückgebliebenen Männer blieben in der Mitte des Torbogens stehen, als wollten sie die Schwestern vom Eintritt abhalten. Einer war ein Saldaeaner, ein dürrer Mann mit breiter Nase, der kurz vor den mittleren Jahren stand und etwas vom Aussehen eines Schreibers hatte, der leicht gebeugt dastand, als hätte er viele Stunden über einem Schreibpult verbracht; der andere war ein Junge, kaum älter als ein Kind, der sich das dunkle Haar mit den Fingern aus der Stirn strich, nur damit der Wind es schnell wieder zurückwehen konnte. Keiner von ihnen schien auch nur das geringste Unbehagen zu verspüren, sechs Schwestern allein gegenüberzustehen. Falls sie allein waren. Hielten sich die anderen in den Türmen auf? Pevara vermied es, zu den Türmen hochzuschauen.
»Du da, Junge«, sagte Desala in glockenhellem Tonfall. Glocken, die vor Wut läuteten. Die sicherste Methode, ihr Temperament in Wallung zu bringen, bestand darin, einem Kind zu schaden. »Du solltest zu Hause sein, wo deine Mutter dich das Schreiben lehrt. Was tust du hier?« Der Junge wurde knallrot und strich sich wieder das Haar aus der Stirn.
»Saml ist schon in Ordnung, Aes Sedai«, sagte der Saldaeaner und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Er lernt schnell, und man muss ihm nichts zweimal zeigen, damit er es beherrscht.« Der Junge stand sehr gerade da, Stolz auf dem Gesicht, und steckte die Daumen hinter den Schwertgürtel. Ein Schwert, in seinem Alter! Sicher, der Sohn eines Adligen würde in Saml al’Seens Alter schon seit Jahren den Umgang mit dem Schwert erlernen, aber man würde ihm nicht erlauben, das Ding in der Öffentlichkeit zu tragen!
»Pevara«, sagte Tarna kühl, »keine Kinder. Ich wusste, dass sie Kinder hier haben, aber keine Kinder.«
»Beim Licht!«, keuchte Melare. Ihre weiße Stute spürte ihre Anspannung und warf den Kopf zurück. »Mit Sicherheit keine Kinder!«
»Das wäre abscheulich«, sagte Jezrail.
»Keine Kinder«, stimmte Pevara schnell zu. »Ich glaube, wir sollten nichts mehr sagen, bevor wir Meister… den M’Hael gesprochen haben.« Javindhra schnaubte.
»Keine Kinder, Aes Sedai?«, fragte Enkazin stirnrunzelnd.
»Wieso keine Kinder?«, fragte er erneut, als er keine Antw ort erhielt.
Jetzt erschien er weniger wie ein Schreiber. Die gebeugte Haltung blieb, aber etwas in seinen schräg stehenden Augen erschien plötzlich… gefährlich. Hielt er die männliche Hälfte der Macht? Die Möglichkeit ließ Pevara frösteln, aber sie widerstand dem Wunsch, Saidar zu umarmen. Einige Männer, die die Macht lenken konnten, schienen spüren zu können, wenn eine Frau sie hielt. Enkazin sah jetzt aus, als könnte er sehr schnell übereilt reagieren.