Sie warteten in aller Stille, abgesehen vom gelegentlichen Hufscharren. Pevara zwang sich zur Geduld, Javindhra murmelte etwas vor sich hin. Pevara konnte die Worte nicht verstehen, aber sie erkannte wütendes Gemurmel, wenn sie es hörte. Tarna und Jezrail holten Bücher aus den Satteltaschen und lasen. Gut. Sollten diese Asha’man sehen, dass sie unbesorgt waren. Leider erschien nicht einmal der Junge beeindruckt. Er und der Saldaeaner standen einfach in der Mitte des Tors und beobachteten sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Nach vielleicht einer halben Stunde öffnete sich ein größ eres Wegetor, und der Murandianer trat hindurch. »Der M’Hael wird Euch im Palast empfangen, Aes Sedai. Geht durch.« Er deutete mit dem Kopf auf die Öffnung.
»Zeigt Ihr uns den Weg?«, fragte Pevara und stieg ab. Das Wegetor war größer, aber sie hätte sich ducken müssen, wenn sie geritten wäre.
»Auf der anderen Seite wartet jemand, der Euch führt.« Er bellte ein Lachen. »Der M’Hael gibt sich nicht mit meinesgleichen ab.« Pevara merkte sich das, um später darüber nachzudenken.
Sobald die Letzte von ihnen hindurch und in der Nähe der weißen Steinplattform mit dem spiegelhellen schwarzen Stein war, schloss sich das Tor wieder, aber sie waren nicht allein. Vier Männer und zwei Frauen in schlichter Wolle übernahmen die Zügel der Pferde, und ein dunkelhäutiger, schwergewichtiger Mann mit dem Silberschwert und einer schlangenhaften Figur in Rot und Gold, einem Drachen, am hohen Kragen, deutete eine Verbeugung an.
»Folgt mir«, sagte er knapp mit einem tairenischen Akzent. Seine Augen waren stechend wie Dolche.
Der Palast, von dem der Murandianer gesprochen hatte, war genau das, zwei Stockwerke aus weißem Marmor, die von Spitzkuppeln und Türmen im saldaeanischen Stil gekrönt wurden. Ein großer, ungepflasterter Platz trennte ihn von der weißen Plattform. Es war kein verhältnismäßig großer Palast, aber die meisten Adligen lebten in bedeutend kleineren und wenig großartigen Häusern. Breite Steinstufen führten zu einem großzügigen Treppenabsatz vor einer hohen Flügeltür. Jede davon zeigte eine Faust in einem Panzerhandschuh, die drei Blitze hielt; die Schnitzereien waren groß und vergoldet. Die beiden Flügel schwangen auf, bevor der Tairener sie erreichte, aber es waren keine Diener zu sehen. Der Mann musste die Macht benutzt haben. Pevara verspürte wieder dieses Frösteln. Javindhra murmelte etwas Unhörbares. Diesmal klang es nach einem Gebet.
Der Palast hätte jedem beliebigen Adligen gehören könn en, dem der Sinn nach Wandteppichen mit Schlachtenszenen und roten und schwarzen Bodenfliesen stand, nur dass keine Diener zu sehen waren. Er hatte Diener, auch wenn leider keine Augen-und-Ohren der Roten Ajah darunter waren, aber erwartete er von ihnen, dass sie außer Sicht blieben, wenn sie nicht gebraucht wurden, oder hatte er sie aus dem Saal gewiesen? Vielleicht sollte keiner die Ankunft der sechs Aes Sedai sehen. Diese Möglichkeit führte zu Gedanken, die sie lieber nicht dachte. Ihr waren die Gefahren vor dem Verlassen der Weißen Burg bekannt gewesen. Sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Das Gemach, in das der Tairener sie führte, war ein Thronraum, wo ein Kreis aus mit Spiralenmustern versehenen Säulen die vermutlich größte Kuppel des Palasts stützte, deren Gewölbe vergoldet und zur Hälfte mit vergoldeten Lampen an vergoldeten Ketten gefüllt war. Auch unten an den Wänden standen hohe Spiegelkandelaber. Etwa hundert Männer in Schwarz standen zu beiden Seiten. Jeder Mann, den Pevara sehen konnte, trug Schwert und Drachen; es waren Männer mit harten Gesichtern, mit hämischen und grausamen Zügen. Ihre Blicke konzentrierten sich auf sie und die anderen Schwestern.
Der Tairener kündigte sie nicht an, sondern gesellte sich zu der Masse der Asha’man und ließ sie den Raum allein durchqueren. Auch hier waren die Bodenfliesen rot und schwarz. Taim mussten ausgerechnet diese Farben gefallen. Der Mann selbst räkelte sich auf etwas herum, das man nur als Thron bezeichnen konnte, einem massiven Stuhl, der so übermäßig beschnitzt und vergoldetet war wie jeder Thron, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte, und der auf einem weißen Marmorpodest stand. Pevara konzentrierte sich auf ihn, und das nicht nur, um die Blicke all der Männer ignorieren zu können, die die Macht lenken konnten. Mazrim Taim zog die Blicke auf sich. Er war groß, hatte eine kräftige Hakennase und strahlte körperliche Kraft aus. Sowie etwas Finsteres. Er saß da mit überkreuzten Knöcheln und einen Arm über die wuchtige Thronlehne gelegt, und doch schien er jeden Augenblick zu einem Gewaltausbruch bereit. Interessanterweise war sein schwarzer Mantel mit blauen und goldenen Drachen bestickt, die sich von den Ellbogen bis zu den Manschetten um die Ärmel wanden, aber er trug nicht die Anstecknadeln am Kragen.
»Sechs Schwestern der Roten Ajah«, sagte er, als sie kurz vor dem Podest stehen blieben. Seine Augen… Und sie hatte gedacht, nur der Tairener hätte einen durchdringenden Blick gehabt. »Offensichtlich seid Ihr nicht gekommen, um uns alle zu dämpfen.« Leises Gelächter hallte durch den Raum.
»Warum wollt Ihr mich sprechen?«
»Ich bin Pevara Tazanovni, Sitzende der Roten«, sagte sie.
»Das ist Javindhra Doraille, ebenfalls eine Rote Sitzende. Die anderen sind Tarna Feir, Desala Nevanche…«
»Ich habe nicht nach Euren Namen gefragt«, unterbrach Taim sie kalt. »Ich habe gefragt, warum Ihr hier seid.«
Das lief nicht gut. Sie schaffte es, nicht tief Luft zu holen, obwohl sie es wollte. Nach außen hin war sie kühl und ruhig. Im Inneren fragte sie sich, ob der Tag wohl damit enden würde, dass man sie zwangsweise dem Bund unterwarf. Oder mit ihrem Tod. »Wir möchten darüber sprechen, mit Asha’man den Behüterbund einzugehen. Schließlich habt Ihr Euch mit einundfünfzig Schwestern verbunden. Gegen ihren Willen.« Sollte er ruhig von Anfang an wissen, dass ihnen das bekannt war. »Wir schlagen allerdings nicht vor, einem Mann den Bund gegen seinen Willen aufzuzwängen.«
Ein hochgewachsener blonder Mann in der Nähe des Podest es lachte hämisch. »Warum sollten wir Aes Sedai erlauben, auch nur einen Mann…« Etwas Unsichtbares traf seinen Kopf so hart an der Seite, dass seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren, bevor er zusammenbrach und mit geschlossenen Augen und aus der Nase tropfendem Blut liegen blieb.
Ein schlanker Mann mit graumeliertem Haar und einem Spitzbart beugte sich hinunter, um dem Gefallenen einen Finger auf den Kopf zu legen. »Er lebt«, verkündete er, als er sich wieder aufrichtete, »aber er hat einen Schädelbruch und einen gebrochenen Kiefer.« Er hätte genauso gut über das Wetter sprechen können. Nicht einer der Männer bot an, ihn zu Heilen. Nicht einer.
»Ich habe ein paar Fertigkeiten im Heilen«, sagte Melare, schürzte die Röcke und ging auf den gefallenen Mann zu.
»Dafür reicht es. Mit Eurer Erlaubnis.«
Taim schüttelte den Kopf. »Ihr habt meine Erlaubnis nicht. Falls Mishraile bis zum Einbruch der Dunkelheit überlebt, wird er Geheilt werden. Vielleicht wird der Schmerz ihn lehren, seine Zunge zu hüten. Ihr sagt, Ihr wollt den Behüterbund eingehen? Rotel«
Das letzte Wort enthielt eine Menge Verachtung, die Pevara zu ignorieren beschloss. Tarnas Blick hätte allerdings die Sonne in einen Eiszapfen verwandeln können. Pevara legte ihr vorsichtshalber die Hand auf den Arm. »Rote haben Erfahrung mit Männern, welche die Macht lenken können.« Unter den zusehenden Asha’man erhob sich Gemurmel. Ärgerliches Gemurmel. Das ignorierte sie auch.
»Wir haben keine Angst vor ihnen. Bräuche können so schwer zu ändern sein wie Gesetze, manchmal sogar noch schwerer, aber es ist entschieden worden, die unseren zu ändern. Darum dürfen Rote Schwestern sich mit Behütern verbinden, aber nur mit Männern, die die Macht lenken können. Jede Schwester kann sich mit so vielen verbinden, wie sie es will. Betrachtet man beispielsweise die Grünen, halte ich es für unwahrscheinlich, dass es mehr als drei oder vier sein werden.«