Nach der Art und Weise zu urteilen, wie Nicola die Augen aufriss, als Egwene die Kutsche verließ, war die Novizin noch erstaunter als sie, aber sie machte einen ordentlichen, wenn auch hastigen Knicks vor den Schwestern. »Die Amyrlin sagt, sie .. . sie soll der Oberin der Novizinnen übergeben werden, Katerine Sedai. Sie sagt, dass Silviana Sedai ihre Instruktionen hat.«
»So, anscheinend werdet Ihr heute Nacht zumindest noch mit der Rute gezüchtigt«, murmelte Katerine mit einem Lächeln. Egwene fragte sich, ob die Frau sie persönlich hasste, ob sie das hasste, was sie repräsentierte, oder ob sie einfach nur jeden hasste. Mit der Rute gezüchtigt zu werden. Sie hatte es nie gesehen, aber sie hatte eine Beschreibung gehört. Es hatte außerordentlich schmerzhaft geklungen. Sie erwiderte Katerines Blick ruhig, und nach einem Moment erlosch das Lächeln. Die Aes Sedai sah aus, als wollte sie sie erneut schlagen. Die Aiel hatten eine Methode, mit Schmerz umzugehen. Sie umarmten ihn, überließen sich ihm kampflos, verzichteten sogar auf den Versuch, Schreie zurückzuhalten. Vielleicht würde das helfen. Die Weisen Frauen behaupteten, dass man den Schmerz auf diese Weise abschütteln konnte, ohne dass er seine Macht über einen behielt.
»Wenn Elaida das hier unnötigerweise in die Länge ziehen will, werde ich daran heute Nacht nicht mehr teilnehmen«, verkündete Felaana und starrte jeden in Sichtweise finster an, Nicola eingeschlossen. »Wenn das Mädchen gedämpft und hingerichtet wird, sollte das reichen.« Die blonde Schwester raffte ihre Röcke und schoss an Nicola vorbei die Treppe hinauf. Sie rannte tatsächlich! Als sie in der Burg verschwand, wurde sie noch immer vom Licht Saidars eingehüllt.
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Pritalle kühl. »Harril, ich glaube, ich leiste dir Gesellschaft, während du Blutlanze in den Stall bringst.« Ein dunkelhäutiger, stämmiger Mann, der mit einem großen Braunen am Zügel aus der Dunkelheit trat, verneigte sich vor ihr. Er trug den Chamäleonumhang eines Behüters, der ihn nicht da zu sein scheinen ließ, wenn er stillstand, und in allen Farben schillerte, wenn er sich bewegte. Lautlos folgte er Pritalle in die Nacht hinein, aber er blickte ständig über die Schulter und beschützte ihren Rücken. Auch um sie blieb das Licht bestehen. Hier ging etwas vor, das Egwene nicht verstand.
Plötzlich breitete Nicola ihre Röcke zu einem weiteren Knicks aus, der diesmal aber tiefer ausfiel, und die Worte sprudelten aus ihr heraus. »Es tut mir Leid, dass ich ausgerissen bin, Mutter. Ich dachte, sie würden mich hier schneller vorankommen lassen. Areina und ich dachten .. .«
»Nennt sie nicht so!«, brüllte Katerine, und ein Strang Luft peitschte hart genug über das Hinterteil der Novizin, dass sie aufschrie und einen Satz machte. »Wenn Ihr der Amyrlin heute Nacht dient, Kind, dann geht zurück zu ihr und richtet ihr aus, dass ich gesagt habe, ihre Befehle werden ausgeführt. Jetzt lauft!«
Mit einem letzten verzweifelten Blick auf Egwene raffte Nicola Umhang und Röcke und eilte die Treppe so schnell hinauf, dass sie zweimal stolperte und beinahe gestürzt wäre. Arme Nicola. Ihre Hoffnungen waren sicherlich enttäuscht worden, und wenn die Burg ihr Alter entdeckte… Sie musste darüber gelogen haben, um aufgenommen zu werden; lügen war nur eine ihrer mehreren schlechten Gewohnheiten. Egwene strich das Mädchen aus ihren Gedanken. Nicola war nicht länger ihre Sorge.
»Es war unnötig, das Mädchen so zu ängstigen«, sagte Berisha überraschenderweise. »Novizinnen müssen geführt werden, nicht genötigt.« Weit entfernt von ihren Ansichten über das Gesetz.
Katerine und Barasine fuhren beide zu der Grauen herum und starrten sie eindringlich an. Jetzt waren es nur noch zwei Katzen, aber statt einer anderen Katze sahen sie eine Maus.
»Wollt Ihr uns allein zu Silviana begleiten?«, fragte Katerine mit einem entschieden unerfreulichen Lächeln.
»Habt Ihr Angst, Graue?«, sagte Barasine mit einem Hauch von Spott in der Stimme. Aus irgendeinem Grund schwang sie einen Arm ein bisschen, sodass die langen Fransen ihrer Stola hin und her baumelten. »Nur eine von euch, und zwei von uns?«
Die beiden Diener standen wie Statuen da, wie Männer, die sich nichts sehnlicher wünschten, als anderswo zu sein, und hofften, nicht bemerkt zu werden, wenn sie nur reglos genug waren.
Berisha war nicht größer als Egwene, aber sie nahm die Schultern zurück und zog die Stola enger. »Drohungen werden vom Burggesetz ausdrücklich verboten…«
»Hat Barasine Euch bedroht?«, unterbrach Katerine sie sanft. Sanft und doch voller scharfem Stahl. »Sie hat Euch nur gefragt, ob Ihr Angst habt. Solltet Ihr?«
Berisha befeuchtete sich unbehaglich die Lippen. Sie war schneeweiß geworden, ihre Augen schienen immer größer zu werden, als würde sie Dinge sehen, die sie nicht sehen wollte. »Ich… ich glaube, ich werde einen Spaziergang auf dem Gelände machen«, sagte sie schließlich mit erstickter Stimme und schlich sich davon, ohne die beiden Roten auch nur einen Augenblick lang aus dem Sichtfeld zu lassen. Katerine stieß ein kurzes, zufriedenes Lachen aus.
Das war absoluter Wahnsinn! Selbst Schwestern, die einander abgrundtief hassten, benahmen sich nicht auf diese Weise. Keine Frau, die Furcht so schnell nachgab wie Berisha, wäre jemals Aes Sedai geworden. In der Burg ging etwas vor. Etwas Schlimmes.
»Bringt sie her«, sagte Katerine und stieg die Stufen hinauf.
Barasine ließ Saida r endlich los, packte Egwene fest am Arm und folgte ihr. Ihr blieb keine Wahl, als den Reitrock zu raffen und ihr friedlich zu folgen. Aber ihre Stimmung war seltsam heiter.
Die Burg zu betreten fühlte sich wirklich wie eine Heimkehr an. Die weißen Wände mit ihren Friesen und Wandteppichen und die bunt leuchtenden Bodenfliesen erschienen ihr so vertraut wie die Küche ihrer Mutter. In gewisser Weise sogar noch mehr; es war viel länger her, dass sie die Küche ihrer Mutter gesehen hatte statt diese Korridore. Jeder Atemzug flößte ihr die Kraft ein, die einem sein Zuhause verleihen konnte. Aber es gab auch Seltsames. Alle Kandelaber brannten, und es konnte noch nicht so spät sein, aber sie sah niemanden. Es rauschten immer ein paar Schwestern durch die Gänge, selbst mitten in der Nacht. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie sie Schwestern gesehen hatte, wenn sie zu später Stunde auf irgendeinem Botengang durch die Burg geeilt und daran verzweifelt war, dass sie niemals so anmutig und majestätisch aussehen würde. Aes Sedai hatten ihren eigenen Tagesablauf, und ein paar Braune verabscheuten es regelrecht, am Tag wach sein zu müssen. Nachts gab es weniger Ablenkungen von ihren Studien, weniger Unterbrechungen beim Lesen. Aber es war keiner zu sehen. Weder Katerine noch Barasine machten eine Bemerkung, während sie durch einsame Korridore schritten. Offensichtlich war die stumme Leere nun üblich.
Als sie zu einer hellen Steintreppe in einem Alkoven kamen, erschien endlich eine Schwester, die von unten kam. Eine mollige Frau in einem rotgeschlitzten Reitkleid. Ihr Mund schien gern zu lächeln, und sie trug ihre Stola mit den langen roten Seidenfransen über die Arme drapiert. Katerine und die anderen hatten die ihren vermutlich getragen, damit sie am Hafen klar zu erkennen waren — in Tar Valon würde niemand eine Frau mit einer fransenbesetzten Stola belästigen; die meisten gingen so jemandem aus dem Weg, vor allem die Männer-, aber warum hier?
Beim Anblick Egwenes hoben sich die dicken schwarzen Augenbrauen der Frau, und sie stemmte die Fäuste in ihre üppigen Hüften. Egwene glaubte nicht, die Schwester schon einmal gesehen zu haben, aber anscheinend galt das nicht für ihr Gegenüber. »Was denn, das ist ja al'Vere. Sie haben sie zum Nordhafen geschickt? Elaida wird euch eine hübsche Belohnung für die Bemühungen dieser Nacht geben; ja, das wird sie. Aber seht sie euch an. Seht nur, wie sie dasteht. Man könnte meinen, ihr beiden seid eine Ehrenwache zur Eskorte. Ich hätte gedacht, dass sie heult und um Gnade bettelt.«