Die beiden folgenden Wochen verlebte ich in einem absoluten Tief. Wie besessen dachte ich über Kyle nach und ächzte sprichwörtlich unter der Bürde meiner Schuld. Im Wahn eines frisch vom Teufel Gerittenen kritzelte ich weitere Blöcke voll und rauchte wie ein Schlot. Ferner wechselte ich die Kleidung nicht mehr, obwohl anders als zu meiner Zeit auf dem College niemand darauf gekommen wäre, mir deshalb Künstlerdünkel anzudichten.
Mein schlechtes Gewissen ähnelte einem Teich, in dem ich zu ertrinken drohte … allerdings beschwört diese Vorstellung auch Szenen von flatternden Armen und Hilferufen herauf. Aber nicht ich. Ich ertrank in meinem Kummer mit grotesker Zustimmung, wie ein Kapitän eines Schiffes, der aus Verpflichtung zum Meeresboden sinkt, angetrieben durch die Opferbereitschaft und das Engagement dem Schiff gegenüber, das ihn hinabzieht.
Eine Art Fieber überkam mich – ich ließ es geschehen – und fesselte mich mehrere Tage ans Bett, in denen ich mit trüben Augen dahindämmerte, spirituell zumindest, beziehungsweise hin- und hergerissen wie ein Gestrüpp im Wind. Ich befürchtete, Jodie werde mich verlassen. Sie tat es nicht, aber meine Depression ließ sie nicht unberührt. Zwei Wochen später, als ich wieder halbwegs bei Trost war, fühlten wir uns beide erschöpft wie durch eine nicht diagnostizierte Krankheit.
Ich sollte erst viel, viel später wieder mit Adam Kontakt aufnehmen, lange nachdem Jodie und ich über den Atlantik geflogen und in die Londoner Nordstadt gezogen waren.
Ein Kommen und Gehen …
Kapitel 6
Vage, aber von jetzt auf gleich vernahm ich ein durchdringendes Geräusch, bevor sich das helle Tageslicht wie ein spitzer Dolch in meine Lider bohrte. Ich stöhnte und wälzte mich hinüber auf Jodies Seite des Bettes, welche kalt war, aufgrund ihrer Abwesenheit.
»Du musst mir erklären«, hörte ich ihre Stimme, wie aus einem ätherischen Strudel, »wie das passieren konnte …«
Ein reumütiger Teil meines Ichs befand sich nicht im Bett in unserem neuen Haus, sondern schwebte frei in der Luft über einem funkelnden Gewässer. Die Nacht war hereingebrochen, das Mondlicht sprühte Funken auf dem schwarzen See, als sei er statisch aufgeladen. Gefangen in diesem winterlichen Standbild hielt ich den Atem an und wartete auf den Sturz ins kalte Nass, zu dem es nicht kam. Jodies Stimme war die einer entleibten Gottheit, zerrte mich gewaltsam in die Wirklichkeit zurück.
Widerwillig öffnete ich ein Auge. Zuckte zusammen, da die Sonne durch die halb zurückgezogenen Vorhänge schien. Jodie stand am Fuß des Bettes und hielt meine Schlafanzughose hoch.
»Morgen«, brummte ich.
»Du hast bestimmt eine brillante Erklärung hierfür.« Sie schüttelte das Kleidungsstück mit beiden Händen. »Ist klitschnass, genauso wie der Teppich unten im Flur. Wie das?«
»Muss einen feuchten Traum gehabt haben.« Ich hievte meine Beine von der Matratze auf den Boden, wobei sich die Härchen auf meiner nackten Haut vor Kälte aufrichteten.
»Urkomisch. Deine Schuhe stehen halb vereist vor der Haustür.« Sie knüllte die Hose zusammen und steckte sie in den Wäschekorb. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, du hättest an einem Hundeschlittenrennen teilgenommen, bevor du zu Bett gegangen bist.«
Auf einen Schlag fiel mir wieder ein, wie ich aus dem Haus geschlichen und hinunter an den zugefrorenen See gegangen war. Wäre die klamme Schlafanzughose nicht gewesen, hätte ich es als außerordentlich lebhaften Traum abgetan. Bei Tag nun musste ich nüchtern feststellen, wie leichtsinnig ich mich in der Nacht verhalten hatte. »Wie spät ist es?«, fragte ich und rieb mir die Augen.
»Mittag.«
»Warum hast du mich nicht früher geweckt?«
»Ich habe es vor etwa einer Stunde versucht, aber nichts zu machen.« Sie verschwand in dem begehbaren Schrank, um nur einen Moment später mit einer Ladung Kleider auf dem Arm herauszukommen. Sie warf sie auf das Bett. »Würdest du den Schreibtisch in das leere Zimmer bringen?« Die Packer waren nicht sicher, wo sie ihn hinstellen sollten, und haben ihn im oberen Flur gelassen. »Wenn du Zeit findest, kannst du auch die Kartons im Keller ausräumen. Schaut alles so nach Umzug aus.«
Ich seufzte. »Liegt daran, dass wir umgezogen sind.«
»Hilfst du mir mal hiermit?« Sie nahm eine Bluse vom Stapel, trug sie hinüber und legte sie über die Scheibe aus Facettglas neben der Schlafzimmertür. Ich sah zu, wie sie ihr Shirt aus- und das frische Teil anzog. Ihr dunkles Haar war nach hinten gekämmt und mit einer Spange fixiert und sie hatte sich geschminkt.
»Wo gehst du hin?«
»Zum College wegen der Anrechnungspunkte, die noch ausstehen.«
Einzig aus diesem Grund hatte Jodie gezögert, als es um den Umzug aus London zurück in die Staaten gegangen war. Sie stand kurz vor dem Doktortitel in Psychologie. Im Frühjahrssemester sollte es so weit sein, und sie schrieb gerade ihre Arbeit fertig. Das Letzte, was sie wollte, war Punkte verlieren, weil sie ihren Standort wechselte.
»Das dürfte kein Problem darstellen, aber ich möchte sichergehen, nur für den Fall. Ich glaube nicht, dass ich den Nerv dafür aufbringen kann, irgendwelche Kursarbeiten nachzumachen. Eher noch breche ich ab.« Sie stopfte die Bluse in eine ihrer schönen schwarzen Hosen und betrachtete ihr Spiegelbild.
»Du wirst nicht abbrechen.«
»Vielleicht kann ich auch kellnern gehen. Oder strippen.«
»Schlag dir das aus dem Kopf. Wird schon schiefgehen.«
Während Jodie noch den Kragen zuknöpfte, kam sie herüber und gab mir einen Kuss mitten auf die Stirn. »Vergiss nicht die Kartons. Und den Schreibtisch.«
»Werde ich nicht.«
»See you later, alligator«, verabschiedete sie sich.
Etwas unbeholfen hievte ich Jodies Tisch den Flur entlang in den Raum, den wir als Büro verwenden wollten. Dort standen noch mehr Kisten an den Wänden, obwohl der Schrank schon von ihren Klamotten überquoll. Ein paar schaffte ich aus dem Weg, ehe ich das Möbel über den Teppich zog und schließlich unter ein Einzelfenster mit Blick auf den Garten neben dem Haus stellte. Von dort aus sah man schwarze Kiefern, die als Zierde vom Wald hinunter bis zum See reichten.
In einer der Gipsplatten an der Wand entdeckte ich direkt über dem Fußboden eine rechteckige Ausstanzung, kaum größer als eine Hundetür. Hätte ich die Kartons nicht weggeräumt, um Platz für den Tisch zu schaffen, wäre sie mir entgangen. Als ich mich bückte, stellte ich fest, dass es tatsächlich eine Tür war, ähnlich der Wandschränke unserer Londoner Wohnung, in denen wir Lebensmittel verstaut hatten. Die Regalböden waren an einer Seite mit Haken versehen, das Fach dank eines Magneten geschlossen geblieben. Dieser gab nach, als ich gegen die Tür drückte, und schon ging sie auf. Ein dunkles Loch offenbarte sich. Eiskalte Luft strömte heraus und verursachte mir einen Schauer über den Rücken. Schlecht isoliert.
Ich zog die Tür ganz auf, um hineinzusehen. Das eckige Fach war nicht geräumiger als die Trommel einer Waschmaschine. Der Boden bestand aus unbehandelten Brettern, die Streben in den Wänden waren mit undurchsichtiger Papierfolie bedeckt, aus der rosafarbene Spitzen des Dämmmaterials ragten wie die Polsterung einer alten Couch.
Einige Gegenstände am Boden erkannte ich. Eines war unbestreitbar ein Baseball. Ein abgegriffenes Dagobert-Duck-Comic. Einige Matchbox-Autos (und allein sie anzusehen versetzte mir einen kalten Stich ins Herz. Schlagartig erinnerte ich mich an diejenigen, auf die ich nach Kyles Beerdigung unter seinem Bett gestoßen war, woraufhin mich Vater in seiner Trauer mit dem Gürtel geschlagen hatte. Gleich darauf war er zurück in seinen Arbeitsraum gegangen, um im Stillen zu weinen.) Dahinter stand ein Schuhkarton, der ein wenig Staub angesetzt hatte.