Das Geheimversteck eines Kindes, dachte ich mir, als ich hineingriff und den Karton nach vorne zog. Dabei hinterließ ich einen deutlichen Handabdruck auf dem Deckel. Auf meinem Schoß wog er wenig, aber leer war er definitiv nicht. Kurz nach dem Öffnen stieß ich ihn blitzschnell von mir und kroch ein Stück auf dem Teppich zurück.
Der Karton blieb auf der Seite liegen und zwei tote Vögel kullerten heraus.
Die Schachtel war voll von toten Vögeln, ihre Augen waren weiß wie Marmor, verdreht nunmehr, mit knochigen Krallen, scheinbar in der Bewegung erstarrt. Nach dem ersten Schock beugte ich mich nach vorn und betrachtete die Kadaver genauer. Sie waren steif gefroren, wie glitzernder Reif auf ihren graubraunen Federn zeigte. Einige hatten den Schnabel halb geöffnet.
Ich suchte mir einen Stoß Packpapier und legte die beiden kleinen Kadaver darin eingeschlagen zu den übrigen zurück. Jeder von ihnen war leicht wie eine Christbaumkugel. Der Karton kam mir vor wie ein Massengrab. Neun Tiere lagen insgesamt darin. Was für ein grausames Kind –
Natürlich kehrte gleich die Erinnerung an meine eigene Jugend wieder, als ich mich mit dem Frosch in den Händen hinter dem Schuppen versteckt oder das Nest voller Küken in dem Strauch an der Garage geschmissen hatte. Jeden einzelnen kleinen Vogel hatte ich zerquetscht, bis klebrig gelbe Flüssigkeit aus ihren Aftern gequollen war. Ich fühlte mich schlecht.
»Scheiß drauf.« Ich setzte den Deckel wieder auf, machte die kleine Tür zu und trug den Schuhkarton in die Küche, wo er in einen Müllsack wanderte. Den brachte ich in den Hof und warf ihn in eine der großen Tonnen.
Im Keller herrschte ein schizophrenes Durcheinander aus Stühlen, Kisten und willkürlich irgendwo abgestellten Gegenständen, die in ihrer Funktion nicht mehr zu gebrauchen waren. Die ehemaligen Bewohner, die Dentmans, hatten das Gewölbe mit Gipsplatten unterteilt und die einst geräumige Fläche unter niedriger Decke in ein Labyrinth aus Waben oder verwinkelten Nischen verwandelt.
Ich fand eine Taschenlampe in meinem Werkzeugkasten und leuchtete damit die Trennkammern aus – eine davon war kaum größer als ein winziges Kämmerchen – während ich durchging. Zuerst dachte ich, dass die Dentmans, oder wer auch immer diese Wände aufgestellt hatte, darauf aus gewesen seien, den Keller zu renovieren. Nach eingehender Betrachtung kam mir die Anordnung der Räume jedoch zu unkonventionell vor. Sechs waren es insgesamt, die Gipsplatten alt und dementsprechend an manchen Stellen eingerissen. Man hatte sie direkt an die tragenden Wände des Hauses genagelt, doch keiner der Räume war elektrisch verkabelt, was auf schlechte Planung schließen ließ. Immerhin waren zwei mit je einer weiteren Platte als Decke versehen worden, wo rosa Dämmstoff von oben herabhing. An einer der Trockenwände bückte ich mich mit der Lampe und sah, dass Teile abgebröckelt waren. Weißer Staub bedeckte den Betonboden. Ich tastete nach den Löchern im Gips.
»Seltsam«, murmelte ich, während ich zurück in die Kellermitte trat und die Kartons anpacken wollte, die dort gestapelt waren. Bereits im Durchgang der behelfsmäßigen Raumteiler aber hielt ich inne, denn meine Lampe traf auf mehrere seichte Pfützen auf dem Beton. Die hatte ich zuvor nicht bemerkt, obwohl man sie nicht übersehen konnte. Ich richtete den Lichtkegel nach oben, wo kreuz und quer eine Unzahl von Kupferrohren verlief. Falls eines davon leckte, wusste ich nicht einmal, wo man die gottverdammte Wasserleitung abstellte.
Allerdings schienen die Rohre trocken zu sein. Um sicherzugehen, fuhr ich mit der Hand daran entlang, doch abgesehen von blaugrauem Staub blieben meine Finger knochentrocken. Einen hielt ich in eine der Pfützen. Eiskaltes Wasser. Indem ich den Lichtkegel weiter über den Beton schweifen ließ, erschloss sich mir ein gleichmäßiges Muster.
Fußspuren. Feuchte Fußspuren.
Sie zogen sich der Länge nach durch den Keller bis vor eine der Gipsplatten, die an die Mauer gehämmert worden waren. Verschwanden im Nichts.
Vorübergehend fühlte ich mich der Ohnmacht nahe und glaubte, meine Welt stürze ein. Allzu eindringlich stieg meine kindliche Furcht wieder auf, Kyle erhebe sich aus dem Grab und fordere meine Seele ein. In meiner Vorstellung tropfte faulig schwarzes Wasser auf die Diele der kleinen Doppelhaushälfte, in der wir einst einträchtig gelebt hatten. Seine Schritte auf dem Hartholzboden klangen wie der entseelte Herzschlag eines Vampirs.
Ich erschrak vor mir selbst, als ich fragte: »Kyle?« Kaum hatte der Name meinen Mund verlassen, geriet mein Blut ins Stocken und mein Körper begann zu zittern. Ziemlich sicher war ich grundlos verängstigt. Mit ziemlicher Sicherheit interpretierte ich etwas aus dem Nichts.
Nur Wasser … nur Wasserpfützen …
Ich schnappte mir ein Handtuch aus dem Waschraum und wischte die Spuren trocken, während ich mir einredete, sie stammten nicht von Füßen. Eine war sogar sichelförmig und zeigte deutlich den Abdruck von fünf Zehen … dennoch gelang mir, es als Unfug abzutun.
Den Mittag verbrachte ich damit, zahllose Kartons leer zu räumen und den Inhalt in verschiedene Zimmer zu tragen. Manches deponierte ich vor dem Haus, auf dass die Sperrmüllabfuhr es mitnahm. Später hörte ich, wie oben die Haustür zuschlug. Jodie war zurückgekehrt und bewegte sich nun auf dem Bretterboden über mir. Ich zielte mit dem Strahl der Taschenlampe auf meine Armbanduhr, es war zehn nach zwei. Ich war hungrig und fragte mich ob Jodie wohl Lust hatte, mit mir in die Stadt zu fahren, um das Essensangebot vor Ort zu sichten und etwas zu besorgen. So oder so war ich müde und wollte mich nicht mehr in diesen lausigen Katakomben herumtreiben.
Also erklomm ich die schmalen Stufen und kam an der Küche vorbei, wo eine Kanne auf dem Herd kochte und Kaffee unkontrolliert Dampf in die Luft stieß und sich dickflüssig schwarz auf die Platte ergoss.
»Verdammte Scheiße.«
Ich schnappte mir ein Geschirrtuch von der Arbeitsfläche und wickelte es um eine Hand, zog die Kanne vom Herd und schaltete ab. Der Kaffee brodelte in meiner Hand weiter und wallte auf. Ich stellte ihn ins Spülbecken und wischte die obere Seite mit dem Geschirrtuch trocken.
Oben stapfte Jodie zweimal mit dem Fuß auf, um sich bemerkbar zu machen.
»Ich weiß, ich weiß. Kaffee kocht, schon klar.« Nachdem ich den Rest der Schweinerei beseitigt hatte, wrang ich das Tuch über dem Spülbecken aus.
Zwei Minuten später suchte ich das Obergeschoss ab, fand Jodie aber nicht. Ich schaute ins Schlafzimmer und Bad. Sie waren leer. Dennoch war ich mir sicher sie gehört zu haben. Als ich zurück zur Haustür ging, war diese verschlossen. Ich rief ihren Namen, erhielt aber keine Antwort. Einen Moment lang blieb ich am Fuß der Treppe stehen, starrte entlang der Stufen ins Obergeschoss, bis ich schließlich einsehen musste, dass ich allein war.
Später, als es wieder zaghaft zu schneien begann, ging ich nach draußen, den weißen Hang hinter dem Haus hinab, um meine bizarre Nachtwanderung Revue passieren zu lassen. Trotz der nassen Schlafanzughose und meiner gefrorenen Nike-Schuhe war ich fast hundertprozentig davon überzeugt, dass ich den Vorfall am See nur geträumt hatte. Die Fußspuren ums Haus, die verschneite Böschung hinunter durchs Gehölz zum Wasser, fungierten jedoch als unumstößlicher Beweis. Ich zog den Parka fester um mich und trat an das Ufer. Auf dem Eis driftete Neuschnee wie weißes Pulver.
Wie ich so dastand, fischte ich eine Packung Marlboro aus der Jackentasche und betrachtete die Treppe, die durch das Eis aus dem Wasser ragte. Obwohl sie immer noch riesig wirkte, nahm ihr das Tageslicht den zauberhaften Schein und gab sie als das preis, was sie war, ein Konstrukt aus marodem Holz, zersplittert und mit Nägeln gespickt. Ich näherte mich, so gut es ging, weit vorsichtiger als in der Nacht, und konnte die grauen Bohlen schließlich genauer betrachten. Dermaßen verwittert wirkte das Konstrukt wie ein Knochengerüst. Es dämmerte mir nicht sofort, aber in einem entlegenen Winkel meines Geistes spross der Keim einer Erzählung und wuchs sich aus, noch während ich mit den Händen in den Taschen und der glühenden Marlboro im Mund dastand.