Am Ufer entlang ging ich weiter nach Norden, bis die Landschaft zu steil und unwägbar wurde. Ich schaute von einer Anhöhe aus zurück, die sich ungefähr fünfzehn Meter über dem Wasser erstreckte. Zweige lagen im Gestrüpp, das die Erde überwucherte und schroffe Felsen ragten aus dem Schnee. Alle Bäume waren kahl, und ihre Äste boten mir sicheren Halt, damit ich nicht mit den Füßen wegrutschte und über den Rand fiel. Die spitzen Felsen hätten mich wie Krokodile zerrissen, die einer arglosen Gazelle harrten.
Von dieser Stelle aus überblickte ich die gesamte Umgebung des Sees. Er war größer, als ich gedacht hatte, denn vom Haus aus versperrten die hohen Kiefern, die das Grundstück säumten, die Sicht auf die Ränder. Hier jedoch konnte ich ungehindert schauen, und er wirkte noch spektakulärer. Ich konnte mir vorstellen, wie es im Sommer aussah, mit all den Bäumen in ihrer Blütenpracht, die Sonne, die einen rotbraunen Streif am Horizont malte, und Kumuluswolken am von Vögeln übervölkerten Himmel dahinzogen. Die seltsame Holztreppe sah aus wie der Aussichtsturm eines U-Bootes, das durch die Eisdecke brach.
Nur ein weiteres Haus stand am See, und zwar genau hinter mir. Drehte ich mich um, konnte ich es durch die dürren, verschlungenen Äste der nackten Bäume ausmachen. Es war im Stil einer Waldhütte gebaut, im Moment mit rauchendem Schornstein, wie man es vom Etikett einer Flasche Ahornsirup erwartete. Die Veranda ringsum war auffällig mit Holzeinlegearbeiten verziert. Von ihr, das ahnte ich, genoss man eine bessere Aussicht auf den See als von meiner Warte aus. Rauchfahnen kräuselten sich gemütlich über dem Dach, geradezu düster gegen den grauen Nachmittagshimmel. Von einer Seite des Hauses zum Scheitelpunkt der Anhöhe wuchs eine Reihe Kiefern. Die Bäume ähnelten Menschen, die Schulter an Schulter standen, wobei ihre Glieder im Wind schaukelten.
Als Jodie später am Abend nach Hause kam, saß ich auf der Wohnzimmercouch und schrieb in ein Ringbuch.
»Wie war es am College?«
»Verglichen mit der Professorenschaft in London kommen diese Typen rüber wie Statisten aus der Andy Griffith Show.«
»So übel kann es nicht sein.«
»Ich übertreibe ein wenig, aber nicht viel. Der Geschäftsführer der Fakultät trug eine verdammte Schnürsenkelkrawatte.«
»Wie sieht es mit den Punkten aus?«
Sie beugte sich über die Armlehne der Couch und drückte mir ihre kalte Nase gegen die Schläfe. »Ich darf freudig verkünden, dass sie alle angerechnet werden. Heute Abend bin ich ein glückliches Mädchen, Mr. Glasgow. Sieh zu, dass du das ausnutzt, solange du kannst.«
Ich klappte das Ringbuch zu und küsste sie. »Klingt nach einer guten Idee.«
»Arbeitest du an etwas?«
»Hab mir bloß ein paar Notizen gemacht.«
»Hast du die Schreibblockade endlich überwunden?«
Ich zuckte unverbindlich mit den Achseln. »Reite nicht darauf herum.«
Sie richtete sich wieder auf und zog ihre Jacke aus. »Bist du dazu gekommen, die Kartons im Keller auszuräumen?«
»Natürlich.« Ich musste wieder an die Fußspuren denken. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Jodie legte den Kopf an meine Schulter und fuhr mit einer Hand den Nacken hinauf in mein Haar.
»Du riechst gut.«
Ich drehte mich und küsste sie. Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und zog mich zu sich herab. Wie aus dem Nichts überkam mich eine animalische Lust, wie ich sie seit der Zeit vor unserer Hochzeit nicht mehr verspürt hatte. Ich war mir sicher, dass Jodie genauso empfand, und einen Moment später liebten wir uns auf dem Sofa. Meine Jeans hing noch an einem Knöchel fest, als ich ihr die Bluse, die sie nur teilweise aufgeknöpft hatte, über den Kopf zog. Es dauerte nur drei bis vier Minuten, fiel dafür aber umso ungestümer und leidenschaftlicher aus.
Als wir fertig waren, wälzte ich mich auf die Seite, und Jodie setzte sich hin. Sie zog die Bluse wieder an, beugte sich nach vorn und schmiegte den Kopf an meine Brust. Wir keuchten angestrengt, aber im perfekten Einklang.
»Das war nicht übel«, sagte ich nach einer stillen Weile.
»Hmmm.« Sie hörte sich entrückt an, als schlafe sie gleich ein.
»Hey«, fügte ich an, indem ich eine ihrer Schultern drückte. »Danach einzupennen ist mein Job.«
»Sorry. Ich bin einfach nur fertig. Hab letzte Nacht nicht gut geschlafen.«
Als ich wieder an meinen Ausflug zum See zu später Stunde dachte, musste ich grinsen. »Ach ja?«
»Meine Träume waren ziemlich seltsam.«
»Was für ein Traum war es denn?«
»Jemand war in unserem Zimmer, stand einfach so am Fuß des Bettes und schaute zu, wie wir schliefen. Es kam mir so echt vor, dass ich aufwachte. Vier- oder fünfmal habe ich es wohl geträumt.«
Kalter Schweiß brach mir am ganzen Körper aus. Während ich im Geiste immer wieder hinunter zum See gegangen war, hatte ich den Grund dafür vergessen – bis jetzt –, weshalb ich überhaupt wach geworden war. Es war das Gefühl, als ob sich ein Fremder in unserem Schlafzimmer aufhielt. Ich hatte mich sogar aufgerafft und vom Treppenabsatz über das Geländer nach unten geschaut, wobei ich mir vorübergehend sicher gewesen war, jemand habe in einer dunklen Ecke in der Diele gestanden.
»Hey«, Jodie rieb an meiner Brust. Sie legte den Kopf in den Nacken, damit sie mich ansehen konnte. »Du schwitzt wie ein Weltmeister.«
Ich drückte sie erneut und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Du hast mich fertiggemacht, Lady.«
Kapitel 7
Die Party bei Adam und Beth kam Jodie und mir nach all der Arbeit, die wir im Laufe der ersten Woche in unser neues Haus gesteckt hatten, sehr gelegen. Das meiste davon war optischer Natur gewesen – Wände streichen, zerbrochene Fliesen ausbessern und die Steckdosen anbringen, die wie Wackelzähne an den Wänden gehangen hatten – und unsere erste Woche in der Waterview Court 111 war zu Ende, scheckig vor lauter Farbe und mit Blasen an den Händen.
Jodie widmete sich rasch wieder ihrer Promotion und nahm eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin fürs Wintersemester am College an, wo sie dreimal wöchentlich zu tun hatte. Idealerweise hätte ich in ihrer Abwesenheit eine Menge schreiben können … aber um ehrlich zu sein, die Schreiberei hatte sich bei mir schon vor Monaten eingestellt. Meine Notizblöcke quollen zurzeit vor Comictieren über, die es sich gegenseitig in den unmöglichsten Positionen besorgten.
Holly Dreher, meine Lektorin von Rooms of Glass Books, hatte begonnen, gereizte Nachrichten auf meiner Handy-Mailbox zu hinterlassen, um zu fragen, wo die restlichen Kapitel blieben, die ich ihr versprochen hatte. Obwohl ich meine E-Mails seit mehreren Tagen nicht abgerufen hatte, ahnte ich, dass mein Postfach ebenfalls mit ihren aufdringlichen und überängstlichen Nachrichten voll war. Zwei Monate blieben mir noch bis zur offiziellen Deadline, aber so wie es gegenwärtig aussah, erwog ich langsam, ihr etwas aus dem jüngsten Roman von Stephen King zu kopieren und per FedEx zukommen zu lassen.
Gegen Viertel vor sechs trudelten allmählich die ersten Gäste bei meinem Bruder ein, zuerst die Goldings. Sie wirkten duckmäuserisch, kamen geschlossen in Brauntöne gehüllt und brachten einen mit reichlich Alufolie bedeckten Schmortopf mit. Befremdlich lange verharrten sie vor dem Servierwagen, auf dem zu früher Stunde noch kein Alkohol stand, sondern ein Becher Zahnstocher und ein Stapel vom vergangenen Heiligabend übriggebliebener Servietten.