Выбрать главу

Ich hatte zu viel intus. Irgendwann im Laufe des Abends war ich abgestumpft, wie es stets in Aussicht stand, wenn man über Gebühr trank. Andererseits wurden die Neugierigen unter den verbliebenen Gästen dadurch erträglicher, und so wie der Abend ausklang, plauderten wir relativ ungezwungen.

Ich ging zum Buffet, um ein paar Reste zusammenzuklauben. Meinen Teller balancierte ich auf einer flachen Hand, während ich ein Fordham-Bier in der anderen hielt.

Neben mir am Tisch stand ein Mann. Er hatte ein zierliches, kantiges Gesicht und dunkle Augen wie Ölflecke hinter dicken Brillengläsern ohne Fassung. Seine Brauen sahen wie Nester aus Stahlwolle aus, und sein Gesicht war von kräftig roten Äderchen durchzogen, die ihn als ausgewiesenen Trinker entlarvten. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig.

»Ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorgestellt«, begann ich, nachdem ich mein Bier auf dem Buffet abgestellt hatte, und bot ihm die Hand an. Obwohl ich sturzbetrunken war, verspürte ich einen Anflug von Nüchternheit. »Ich bin Travis Glasgow.«

Er erwiderte die Geste. Sein Händedruck war lasch und währte nicht lang. Dieser Mensch mochte es nicht, andere Hände zu schütteln. »Ira Stein. Sie und Ihre Frau sind neu hier, nicht wahr?«

»Ja, wir wohnen erst seit einer Woche in der Stadt. Bis Adam uns erzählte, das Haus der Dentmans stehe zum Verkauf, lebten wir in London.«

»Nancy und ich wohnen gleich nebenan. Selbst jetzt, da die Bäume keine Blätter tragen, sehen Sie unser Haus kaum.«

»Dann gehört Ihnen die Blockhütte am See«, schlussfolgerte ich und dachte an den rauchenden Schornstein an jenem grauen Tag, als ich am Ufer entlang nach Norden spaziert war. »Der Ausblick dort ist fabelhaft.«

Ira nickte fast mechanisch. »Wirklich sehr schön, ja.«

»Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir es so billig bekommen haben.«

»Nun, wir heißen Sie und Ihre Frau …«

»Jodie.«

»Wir heißen Sie und Ihre Frau Jodie herzlich willkommen. Die Dentmans waren eine recht eigentümliche Familie, wie Sie vielleicht schon erfahren haben. Nicht dass ich schlecht über diese bedauernswerten Leute sprechen möchte, vor allem nach dem, was ihnen passiert ist, aber dennoch: Sie waren seltsam.«

»Was meinen Sie damit? Was ist mit ihnen geschehen?«

»Ich rede von dem Unglück. Die Sache mit dem Jungen.«

Ich schüttelte den Kopf. Abgefüllt vom Alkohol kam mir ein schiefes Grinsen über die Lippen. »Tut mir leid, aber ich habe keinen Schimmer, worauf Sie anspielen.«

»Den Sohn der Dentmans.« Er zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

»Was ist mit ihm?«

»Oh.« Ira starrte zuerst auf seinen Teller, auf dem nur ein paar Olivenkerne sowie ein Fechtdegen nachempfundener Plastikzahnstocher lagen. Dann durch den Raum zu einer dünnen und neurotisch wirkenden Frau. Das musste seine Gattin Nancy sein. Sie lehnte an der Wand und beobachtete die anderen im nunmehr stillen Wohnzimmer beim Plaudern. Derart losgelöst von der Gruppe hätte sie genauso gut eine Lampe oder schmucke Statue auf einem Beistelltisch sein können.

Nancy drehte den Kopf und erwiderte unseren Blick. Ich erwartete ein Lächeln, wurde aber enttäuscht.

»Was ist nun mit den Dentmans passiert?«

»Tut mir leid.« Ira winkte ab. »Ich hätte besser den Mund gehalten.«

»Nein«, beharrte ich. »Was –«

»Wirklich.« Jetzt war er es, der die Hand ausstreckte.

Perplex nahm ich diese nicht sofort an.

»Ich war unachtsam. Denken Sie nicht weiter darüber nach. Mir steht nicht zu, darüber zu reden. Ich entschuldige mich aufrichtig, Travis. Schön – wirklich schön, Sie kennengelernt zu haben.«

Ich sah ihm hinterher. Er gesellte sich zu seiner Frau. Als sie sich unterhielten, steckten sie die Köpfe zusammen, dass ihre Rücken und Hälse symmetrisch gebeugt waren, wie man es bei Verliebten in Zeichentrickfilmen sieht, wo dann normalerweise noch ein Herz zwischen beiden erscheint.

Jodie hastete mit einem Tablett voller Dessertteller an mir vorbei. »Einiges los«, summte sie, ohne stehen zu bleiben.

Ich hörte sie kaum, weil ich zu sehr auf Ira Stein gegenüber fixiert war.

Nachdem alle gegangen waren, rauchten Adam und ich Zigarren auf der Terrasse hinterm Haus. Umgeben von Dunkelheit und dem tiefen Seufzen des Windes in den Kiefern fühlte ich mich enthoben wie nie zu vor. Weit weg von London, D.C. und überhaupt allen Orten, an denen zu leben und alt zu werden ich mir ausgemalt hatte.

»Was ist mit den Dentmans passiert?«, fragte ich ihn.

Adam schaute mich von der Seite an, wobei ich mich auf die Schnelle nicht entscheiden konnte, ob er nun lächelte oder eine finstere Miene aufgelegt hatte. Am Ende war es wohl weder das eine noch das andere. Adam war immer schon ein harter Kerl gewesen. Irgendwie, vielleicht durch kosmische Indifferenz, wusste er immer, was er zu sagen hatte. Nun hatte ich das Gefühl, aus erster Hand eine andere Sicht auf meinen älteren Bruder zu bekommen – verwundbar und zaudernd wie jeder andere Mensch auf dieser Welt.

»Hey«, drängte ich. »Was hat es nun mit diesem großen Geheimnis unter Nachbarn auf sich?«

»Ich nehme an, jemand hat dir vorhin etwas erzählt«, erwiderte er, indem er sich abwandte.

»Ira Stein deutete etwas an, ging aber auf keinerlei Einzelheiten ein. Ihm schien es peinlich zu sein, es erwähnt zu haben. Was ist passiert?«

»Ira Stein«, murmelte Adam, woraus ich schloss, dass er den Mann nicht sonderlich guthieß.

»Komm schon, Mann.«

»Ein alter Einsiedler lebte seit Ewigkeiten in eurem Haus, lange bevor Beth und ich herzogen. Bernard Dentman. Ich weiß nicht, ob irgendjemand unter den Anwohnern ihn genau kannte; nur Ira Stein und seine Frau hatten mehr mit ihm zu tun, bevor er erkrankte. Die Steins leben quasi schon immer hier, wissen also, was sich hinter jeder einzelnen Tür abspielt.« Wieder bezeugte er unterschwellig Abscheu.

»Zu Anfang, als wir gerade hergezogen waren, machten die Nachbarskinder Jacob Angst, indem sie behaupteten, der Kerl sei in Wirklichkeit seit über zweihundert Jahren ein Gespenst und spuke im Haus herum. Schließlich überzeugte ich ihn davon, dass Bernard Dentman ein harmloser alter Mann war. Letztes Jahr wurde er krank, weshalb seine beiden erwachsenen Kinder ihm im Haus Gesellschaft leisteten, David und Veronica.« Adam zögerte. »Die zwei wirkten genauso sonderbar. Veronicas Sohn war etwa so alt wie Jacob, aber keines der Kinder in der Gegend gab sich mit ihm ab oder sah ihn überhaupt, außer wenn er allein auf dem Hof spielte. Elijah hieß er und war geistig ein wenig zurückgeblieben, weshalb er Heimunterricht bekam. Ich denke nicht, dass er irgendwie gestört war, du weißt schon … autistisch vielleicht, aber ist auch egal. Jedenfalls zogen Veronica und David zu ihrem Vater und betreuten ihn, bis er starb.«

Adam zog kräftig an der Zigarre und nahm sie dann aus dem Mund, um die rot glühende Spitze zu betrachten. »Elijah ertrank letzten Sommer im See hinter eurem Haus. Deshalb sind Veronica und David so eilig fortgezogen und haben das Haus in einem erbärmlichen Zustand zurückgelassen. Sie mussten diese Hölle verlassen.«

Ich bekam feuchte Hände und brachte keine Antwort heraus.

»Die Treppe im See hast du vermutlich bemerkt. Diese, die aus dem See kommt.«

Ich nickte. »Wozu ist sie?«

»Ist ein alter Pier für Angler. Vor ein paar Jahren wurde er bei einem Sturm aus der Erde gerissen und trieb hinaus. Niemand weiß, wem sie gehörte, also machte man keine Anstalten, sie wegzuräumen. Im Sommer treffen sich die Kids aus der Nachbarschaft dort, benutzen sie als Sprungturm oder was auch immer. Letzten Sommer spielte Elijah dort.« Adam zuckte wieder mit den Achseln. Wir hätten genauso gut übers Wetter oder die miese Wirtschaftslage reden können. »Nachdem wir den Vorfall mehrmals durchgespielt hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass er mit dem Kopf aufgeschlagen und ertrunken war.« Seine Stimme klang nun unheimlich monoton, als bemühe er sich verbissen darum, einen gleichgültigen Eindruck zu hinterlassen. »Jemand hätte ihn beaufsichtigen sollen.«