»Um Himmels willen, warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Weil ich euch die Freude am Umzug nicht verderben wollte. Ich wäre untröstlich gewesen, hätte ich euch mit dieser makabren Sache belastet. Das Haus ist hübsch, die Nachbarn sind angenehm, und was mit dem kleinen Jungen geschah, braucht euch nicht zu interessieren. Ich weiß ja, wie du tickst.« Mit dem abschließenden Seufzer klang Adam wie ein Hundertjähriger.
Erneut dachte ich an unseren Vater. Ich dachte daran, wie er mich nach Kyles Bestattung mit seinem Gürtel verprügelt hatte und dann in sein Arbeitszimmer gegangen war. Ich hatte sein lang gezogenes, lautes Schluchzen durch die geschlossene Tür gehört.
»Was meinst du damit, du weißt, wie ich ticke?«
»Scheiße.« Adam nahm die Zigarre wieder aus dem Mund und schaute sie an, als sehe er zum ersten Mal eine. »Muss ich das Kind wirklich beim Namen nennen?«
Es war nicht notwendig. Ich wusste, dass er sich wegen Kyles Schicksal über Elijah Dentman ausgeschwiegen hatte. Dazu musste ich mein Gehirn nicht zermartern. Dennoch war ich verärgert über seine Überfürsorge. Ich war kein verdammtes Kind mehr. »Denkst du, ich hätte das Haus mit diesem Hintergrund nicht gekauft?«
Er schaute mich an. Sein Blick war stechend. Nüchtern. »Hättest du?«
Enttäuscht schüttelte ich den Kopf und starrte hinaus in die Finsternis. »Manchmal glaube ich, du kennst mich überhaupt nicht.«
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Brauchst du nicht.«
»Ich bin dein großer Bruder. Das ist mein Job.«
»Lass es bleiben.« Mehrere Herzschläge lang herrschte bedrückendes Schweigen zwischen uns. »Riecht nach Weihnachten«, durchbrach ich es schließlich, um gleichzeitig das Thema zu wechseln. »Die Luft. Irgendwie rauchig hier.«
»Liegt an den Kiefern.«
»Weißt du noch? Als Kids hatten wir immer einen echten Baum zu Heiligabend.«
»Na klar.«
»Jodie und ich, haben es uns in London angewöhnt, einen aus Plastik aufzustellen. Das hat sich selbst zur Tradition entwickelt. Oder die Tradition ein wenig verfälscht, schätze ich. Ein Fake-Baum …«
Adam kicherte. »Wir haben auch so einen.«
»Sie riechen einfach nicht so.«
»Nicht nach Weihnachten«, bestätigte er.
»Absolut überhaupt nicht«, pflichtete ich bei. »Erzähl Jodie nichts davon, okay? Über den ertrunkenen Jungen, meine ich.«
»Werde ich nicht.«
«Du hast Recht. Es braucht uns nicht zu interessieren.«
»Ich bin froh, dass du mir zustimmst.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter.
Die Schwärze der Nacht vor uns schien die ganze Welt auszumachen. Meinem wie wohl auch Adams Empfinden nach mochten wir die beiden einzigen Menschen im kalten, dunklen Antlitz des Planeten sein.
Teil zwei.
Das schöne am geheimnissvollen
Kapitel 8
Die Weihnachtszeit kam und ging. Silvester feierten wir mit Adams Familie im Tequila Mockingbird, Tooey Jones‘ Pub, unweit der Hauptstraße. Ein schwerer Schnellfall bedeckte die Stadt von Westlake in der ersten Jännerwoche, und die Ältesten verkündeten den kältesten Winter, den sie je gesehen hatten, seit sie Jungs waren. Zusammen mussten sie schon dreihundert Jahre alt sein.
Abgesehen von der nicht verlässlichen Heizung im Keller machte uns das Haus wenig Kummer. Am zweiten Januar untersuchte ein Monteur vom örtlichen Gasunternehmen das Gerät und meinte, es sei alles in Ordnung. Dann schaute er sich das Thermostat im Erdgeschoss an, das konstant zwanzig Grad anzeigte. »Kann sein, dass es kaputt ist«, vermutete er. »Sie müssen einen Termin vereinbaren, damit sich jemand anders von der Firma darum kümmert.«
Waterview verkaufte sich blendend, und die Kritiken, die mein Verleger von Websites und aus verschiedenen Printmedien zusammentrug, konnten sich ebenfalls sehen lassen. So gut diese Neuigkeiten auch waren, versuchte ich dennoch, meiner Lektorin Holly Dreher aus dem Weg zu gehen, weil ich keinen einzigen Satz an meinem neuen Buch geschrieben hatte, seit wir aus London fortgezogen waren. Aus welchen Gründen auch immer, blockierte eine unerschütterliche Backsteinmauer den Gedankenfluss in meinem Hirn. Natürlich wusste ich, dass ich diesen Spießrutenlauf nicht ewig fortführen konnte.
Eines trist-grauen Nachmittags, als die nackten Zweige der Bäume schlackernd von einem heraufziehenden Sturm kündeten, läutete mein Handy in der Küche. Ein beharrliches Zirpen im leeren Haus. (Beth hatte Jodie zu einer Shoppingtour in die Stadt überredet.) Ich starrte gerade auf eine leere Blockseite und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen mein Handgelenk. Weil Gott genauso wie jeder Mensch auf Ironie steht, war ich mir sicher, dass Holly anrief, und siehe da, als ich das Gerät von der Arbeitsplatte schnappte, zeigte es die Vorwahl 212 an: New York. »Hey, Holly.«
»Ich dachte schon, du seist dort draußen gestorben, Travis.« Ihr Tonfall ließ eindeutig erkennen, dass ihr klar war, dass ich sie gemieden hatte wie die Pest.
»Nein. Ich lebe noch und bin wohlauf.«
»Was sollte ich denken nach all den Nachrichten, die ich dir hinterließ, von wegen du sollst mich zurückrufen.« Sie seufzte. Ich hörte, wie sie sich eine Zigarette ansteckte. »Wie ist das neue Haus?«
»Wir müssen noch etwas Arbeit hineinstecken.«
»Um Gottes willen, du ziehst doch nicht etwa Wände hoch oder reißt welche ein.«
»Nein, so schlimm ist es nicht.«
»Auf die letzten E-Mails hast du auch nicht reagiert.«
»Unsere Internetverbindung ist mehr schlecht als recht.« Das war nicht gelogen, denn wir hatten tatsächlich Schwierigkeiten damit. Und beim Provider hatten wir bereits Beschwerde eingelegt, wo man jedoch alle Vorwürfe von sich wies. Trotzdem: Selbst wenn ich länger als ein paar flüchtige Minuten hätte surfen können, bevor die Verbindung abbrach, wäre ich außerstande gewesen, Hollys Nachrichten im Zuge der Schreibblockade abzurufen, unter der ich litt.
»Also hör mal, es ist nicht zu viel verlangt, deinen Hintern in die nächste Bibliothek zu schwingen und einer Freundin zumindest Bescheid zu geben, dass es dir gut geht. Capisce?«
»Ich hatte bisher kaum Zeit, mich in der Stadt umzusehen. Keine Ahnung, ob es überhaupt eine Bibliothek gibt. Du kannst dir sicher ausmalen, wie es am Arsch der Welt zugeht.«
»Gott. Erinnere mich nicht daran. Mein Geburtsort liegt in Pennsylvania und heißt Inzest, erinnerst du dich?«
Draußen blies der Wind kräftiger und rüttelte an den Fensterläden der Küche. Das Haus knirschte und ächzte überall um mich herum. Ich kam mir vor wie im Bauch eines riesigen Fisches.
»Hättest du die E-Mails gelesen«, fuhr Holly fort, »wüsstest du, dass ich eine Menge lobender Worte für die ersten Kapitel übrig hatte.« Sie machte eine dramatische Pause. »Ich bin gespannt, den Rest zu lesen.«
»Sicher«, erwiderte ich … und hielt sofort inne. Eine Bewegung im Flur erregte meine Aufmerksamkeit. Ich sah – oder glaubte zu sehen –, wie ein Schatten der Länge nach über die Wand kroch. Meine Eingeweide verkrampften, und mein Herz war plötzlich hart wie Granit. Mit zugehaltener Sprechmuschel, rief ich Jodies Namen und wartete auf eine Antwort, die jedoch nicht folgte. Außerdem hätte ich die Haustür gehört, wenn sie es gewesen wäre.
»Wir werden die Druckauflage bei dem neuen Buch verdoppeln.« Holly klang auf einmal viel zu laut. »Wenn es nach mir geht zumindest. Aber zuerst musst du abliefern.«