»Hosenscheißer«, wiederholt sein Bruder. »Hosenscheißer, Hosenscheißer, Hosenscheißer.«
»Hör auf.«
»Und verdammt dazu«, hängt der Ältere leiser an, denn dies ist das verbotene Wort, der ultimative Fluch und fast biblisch in seiner Prägnanz beziehungsweise wegen der Geheimnisse, die es umgeben. »Bist du ein verdammter Hosenscheißer?«
Der Kleine scheint den Tränen nahe.
»Du wolltest mit herkommen«, erinnert der ältere Bruder. »Falls du mutig genug bist, dann los.«
Er zaudert lange. Paradoxerweise will der große dem kleinen Bruder gerade auf die Schulter klopfen und sagen, er solle sich ruhig ins Gras setzen, als dieser ihm sein Handtuch reicht und die Schuhe auszieht.
Sein Mut beeindruckt den Älteren. Wäre die Situation andersherum, wüsste er nicht, ob er dazu in der Lage wäre, sich genauso tapfer zu zeigen.
Der Jüngere geht barfuß ums Gestrüpp, wobei kleine Spuren im feuchten Grund zurückbleiben, und erklimmt die Stufen auf das Dach des Stegs. Auf halber Höhe wird er langsamer und schaut nach unten; schließlich legt er auch den Rest zurück. Oben ist er nur ein schwarzer Schatten, ein undeutlicher Schemen im Dunkel. Der Mond steht klein in der Ferne, verhüllt von Wolken und Baumwipfeln; die Nacht ist finster, wie ein Hort verdrängter Träume. Der ältere Bruder kann ihn kaum erkennen.
»Sei vorsichtig«, wispert er.
Eine schwachbrüstige Stimme versichert beklommen: »Bin ich.«
Er hört ihn tief Luft holen.
Er wird es wirklich tun, denkt sich der Ältere.
Kurze, hastige Schritte trippeln über die Dachplanken, dass an einen nahenden Zug erinnert, der eine hölzerne Brücke überquert.
Wow, er macht es tatsächlich. Kaum zu glauben.
Stille kehrt ein, als der kleine Junge die Kante erreicht und abspringt. Jetzt schwebt er in der Luft, hängt irgendwo in der Leere.
Ein Mississippi, zwei Mississippi …
Der ältere Junge erwartet den Aufprall; er hört und spürt ihn im Voraus.
Aber er kommt nicht.
Kein klatschendes Geräusch.
Dafür ein anderes – ein kräftiger, Übelkeit erregend dumpfer Knall vom Wasser her, der den Älteren an einen Baseball erinnert, der im Lederhandschuh des Fängers aufschlägt. Kein Platsch. Er ruft den Namen seines Bruders, wartet jedoch vergeblich auf eine Antwort.
Kein Platschen. Keine Antwort. Nur dieser abscheuliche Bums, der das Blut in seinen Adern gefrieren, seinen Körper zur Salzsäule erstarren lässt …
»Alles wird gut, Junge«, beschwichtigte Detective Wren, indem er eine fleischige Hand auf meine schmale, schlotternde Schulter legte.
Tränen trübten meine Sicht, und meine Brust bebte mit jedem Atemzug.
»Ist schon in Ordnung. Beruhige dich erst einmal. Sobald du gefasst bist, machen wir weiter.«
Ein kleines Schwimmdock – nicht größer als eine Doppelmatratze und mit vier Finger dicker Schieferplatte belegt – hatte sich früher am Abend von den Leinen gelöst, war mehrere Stunden lang haltlos und unbemerkt herumgetrieben, schlussendlich den Fluss hinauf Richtung Bucht. Als Kyle vom Dach des Stegs sprang, schwamm die Vorrichtung genau unter ihm, verborgen in der Dunkelheit.
Der dumpfe Laut, bei dem sich mir der Magen umdrehte, verursachte Kyles Schädel, der auf dem Schiefer brach. Dann rollte mein Bruder bewusstlos in den Fluss, versank wie ein Stein und ertrank.
Kapitel 20
Mit siebenundsiebzig hatte Earl Parsons ein Gesicht wie ein alter Bluthund, der zu häufig getreten worden war, weil er im Müll stöberte. Sein Körper war von der lang gezogenen Sorte und er wäre auch als Orang-Utan oder Riesenfaultier durchgegangen, bekleidet mit hellblauer Polyesterhose und kariertem Flanellhemd. Seine Träger waren wie die US-Flagge gemustert, und die unförmige Nylon-Skijacke darüber besaß einen Kunstpelzkragen, wie ihn vielleicht ein Sheriff in den Bergen von Colorado tragen würde. Sein schlecht gescheiteltes, grafitgrau meliertes Haar haftete dank vermutlich mehrerer Handvoll nach Kampfer riechender Pomade an der Kopfhaut. Meiner Einschätzung nach kämmte er es nicht sonderlich oft. Aber da er unverhohlen herzlich auf mich zukam und sich durch seine ländliche Freundlichkeit durchwegs gesellig zeigte, kam ich nicht umhin, ihn sofort sympathisch zu finden.
»Das ist großartig«, sagte er. »Ich meine, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Mr. Glasgow. Wenn ich noch einen Artikel über Mora Chaunceys Cockerspaniel schreiben muss, bin ich mir sicher, platzt mein Kopf.«
Wir saßen im Wohnzimmer, Earl vornübergebeugt in einem gepolsterten Sessel, ich gegenüber auf dem Sofa. Jodie hockte neben mir auf der Lehne und strahlte. Sheila aus der Bibliothek hatte vermutlich erwähnt, dass ich verheiratet war – ich erinnerte mich daran, es ihr gegenüber erwähnt zu haben –, so war er nicht nur mit seinem Spiralblock sowie einer Kamera um den Hals aufgekreuzt, sondern brachte obendrein einen Strauß Wildblumen mit, die Jodie gnädig entgegennahm und in eine Vase steckte.
»Ich fühle mich geschmeichelt, wenn Sie glauben, ich sei einen Bericht wert«, gestand ich ihm.
»Nicht dass ich Ihre schriftstellerischen Qualitäten herunterspielen möchte, aber alles lauter als ein Furz ist hier in der Gegend berichtenswert«, sagte er, dann schaute er Jodie an und schien entsetzt. »Oh Ma‘am, Verzeihung. Ich bin ein taktloser Rüpel, der anscheinend zu viel Zeit alleine verbringt. Entschuldigen Sie bitte.«
Jodie winkte ab. »Bitte … sehe ich so unschuldig aus, als hätte ich noch nie einen Furz gehört?«
Sein Grinsen zeigte schiefe und vom Nikotin gelbe Zähne. Er lachte kehlig und aus tiefstem Hals. »Dann sind Sie also eine Frau von Welt, umso besser.«
»Treffende Einschätzung«, sagte sie zu mir. »Ich mag diesen alten Mann. Können wir ihn behalten?«
Daraufhin bekam Earl einen Lachkrampf, der mich an über Schotter knirschende Autoreifen denken ließ. Er riss die Augen weit auf und schlug sich mit seinen breiten Pranken so fest auf die Schenkel, dass ich befürchtete, seine Knochen würden brechen. Der Anfall dauerte mehrere Sekunden und steckte richtiggehend an; hinterher fühlten wir uns alle wie alte Freunde.
»Bevor wir anfangen«, begann er, und zog ein Taschenbuch aus seiner Jacke, »dachte ich, Sie könnten mir das hier signieren. Natürlich nur, wenn Sie es nicht für vermessen halten.«
Er reichte mir das Buch. Nachdem er am Telefon behauptet hatte, er lese gerade einen meiner Romane, rechnete ich mit dem Exemplar von Silent River aus der Bücherei, doch dies war Waterview, gekauft und bereits gelesen, wie ich am Rücken sowie einigen Eselsohren erkannte.
»Es war großartig«, lobte er und gab mir einen Stift. »Die letzten dreißig Seiten habe ich nur so verschlungen. Ich habe schon mit The Ocean Serene begonnen. Sicher, ich lese sie in der falschen Reihenfolge, aber ehrlich gesagt wollte ich mich zuerst nur mit diesem einen befassen. Allerdings schlug es mich derart in seinen Bann, dass ich die anderen auch brauche.«
»Das ist so nett von Ihnen. Schön, dass es Ihnen gefallen hat.«
Ich schrieb auf die Titelseite:
Für Earl Parsons, das neue Haustier meiner Frau –
Mögen all Ihre Fürze leise, dafür tödlich sein.
Travis Glasgow