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»Es ist okay«, beruhigte ich ihn, obwohl mir nach wie vor nicht einleuchtete, warum er mir das Bild gezeigt hatte.

»So will ich auf indirektem Wege begreiflich machen, weshalb ich Ihnen alles Weitere zeigen werde. Irgendwie fühle ich mich Ihnen wohl verbunden beziehungsweise vertraue darauf, dass Sie mich nicht ausnutzen. Schön und gut, wenn Sie behaupten, Sie schreiben ein neues Buch, aber was ich Ihnen nun offenbare, darf niemand außerhalb dieser vier Wände erfahren.« Er hustete rasselnd in eine Faust und fuhr fort: »Gewiss, Sie sind ein Fremder für mich, aber etwas sagt mir, dass ich auf ihr Schweigen bauen kann. Vielleicht bin ich aber bloß ein alter Einfaltspinsel. Allerdings hat mich der Instinkt über all die Jahre hinweg nie getäuscht. Hoffentlich sind Sie nicht derjenige, der ihn widerlegt.«

»Ich schwöre«, versprach ich, »was Sie sagen, bleibt unter uns.«

Earl nahm sich die Mappe vor. »Es geht weniger darum als um die Umstände, wie ich darauf gestoßen bin.« Er zog das Verschlussband auf und öffnete sie. Ein Haufen bunter Blätter fiel heraus. Er überreichte mir einen Packen Papier, der mit einer Büroklammer zusammengehalten wurde.

Auf der ersten Seite fiel mir gleich David Dentmans Name ins Auge, dazu seine Adresse in West Cumberland sowie weitere Angaben zu seiner Person – Sozialversicherungsnummer, Telefonnummer, Geburtsdatum. »Was ist das hier?«

»David Dentmans Strafakte.«

Ich überflog die Seiten beim Durchblättern. »Wie haben Sie die bekommen?«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Allein sie zu haben, ist wahrscheinlich schon illegal, ich möchte da keinen mit hineinziehen.«

»Dann frage ich nicht noch einmal.« Ich hielt inne, um mir eines der Blätter genauer anzusehen. »Drei Festnahmen. Wenn ich richtig lese, und …«

»Oh«, versicherte Earl. »Da lesen Sie richtig.«

»Zweimal wegen schwerer Körperverletzung, einmal … was bedeutet T und B?«

»Tätliche Beleidigung.«

»Jesus Christus.« Ich las es mir genauer durch. »Was heißt ›nol pros‹?«

»Das ist Latein und steht für nolle prosequi. Das bedeutet, er kam in Arrest, wurde aber nicht vor Gericht gestellt.«

»Also ist er in allen drei Fällen davongekommen?«

»So steht es da.«

»Wie kann das sein?«

Earl zuckte mit den Schultern und kratzte mit seinen Bärenpranken über das stoppelige Kinn. »Aus verschiedenen Gründen. Nicht genügend Beweise. Oder die Opfer haben die Anklagen fallen gelassen.«

»Wer sind die Opfer?«

»Keinen Ahnung.«

Ich las erneut die Seiten. »Das jüngste Vergehen liegt nur drei Jahre zurück. Die tätliche Beleidigung. Sprechen wir hier von einer Schlägerei in einer Bar oder …?«

»Kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«

»Gibt es keinen Weg, es herauszufinden? Ich meine, wer waren denn die Officers, die ihn festnahmen?«

»Unmöglich, es aus diesem Geschwafel herauszulesen«, meinte Earl.

»Gut, David Dentman hat also ein Vorstrafenregister«, resümierte ich. »Sicherlich haben die Cops einen Blick darauf geworfen, nachdem Elijah verschwunden ist?«

»Jede Wette, dass sie Bescheid wissen. Mit Sicherheit.«

»Der Neffe des Typen ertrinkt angeblich, und die Leiche taucht nie wieder auf und das Einzige, das sie haben, ist seine Aussage? Klingt nach ziemlicher Schlamperei, finden Sie nicht?«

»Dann wäre da noch die Frau«, erinnerte mich Earl. »Sie hat den Jungen am See gesehen und später diesen Schrei gehört. Nicht zu vergessen.«

»Richtig. Nancy Stein. Ich unterhielt mich vor ein paar Tagen mit ihr und ihrem Ehemann. Erst nachdem sie von der Polizei verhört wurde, sagte sie, sie habe einen Schrei gehört. Als Heulen umschrieb sie es.« Ich runzelte kopfschüttelnd die Stirn. »Während unseres Gespräches zeigte sie sich nachdenklich, als habe sie seit jener Zeit lange Nächte über den Schrei und ihre Angabe den Cops gegenüber gegrübelt. Ich glaube, sie glaubt, man habe sie dazu gedrängt, den Schrei als Elijahs Schrei aufzufassen.«

Earl kratzte mit den Fingernägeln an der Seite seines bärtigen Halses entlang. Meine Worte ließen ihn erstarren; sein Blick vom anderen Ende des schwach ausgeleuchteten Tisches sah vielsagend aus. »Sie denken an eine polizeiliche Vertuschung?«

»Nein, nein. Nichts dergleichen. Vielleicht haben die Ermittler Nancy unbewusst Worte in den Mund gelegt und sie auf Gedanken gebracht, die gar nicht ihre eigenen waren. Lassen Sie es sich einmal durch den Kopf gehen: Sie hören ein Geräusch, das sich in etwa wie ein Schrei anhört, und denken sich nichts dabei. Später kreuzt ein Trupp Cops vor der Haustür auf und verkündet, der Nachbarjunge werde vermisst und sei vermutlich im See ertrunken. Sie werden gefragt, ob sie etwas gehört haben, vielleicht einen Schrei oder Heulen oder etwas in der Art. Und natürlich kommt man wieder auf jenen nicht zuzuordnenden Schrei zurück, den man sich früher am Tag entweder eingebildet oder tatsächlich gehört hat. Auf einmal sind sie völlig davon überzeugt, und genau dies halten die Polizisten in ihren Berichten fest.«

»Klar«, erwiderte Earl. »Das kaufe ich Ihnen ab.«

»Haben Sie David oder Veronica für Ihren Artikel interviewt?«

»Nein, die Polizei gestattete es nicht.«

»Und woher stammen Ihre Informationen?«

»Von den Männern vor Ort. Später gelangte ein von Paul Strohman abgesegnetes, offizielles Statement an die Presse, mit dem ich meine Stichpunkte abglich.«

»Paul Strohman?« Wo hatte ich den Namen gehört?

»Der Polizeichef. Warten Sie …« Earl kramte in der Mappe, ging mehrere Seiten durch und übergab mir einen ausgeschnittenen Zeitungsbericht.

Es handelte sich um eine kurze Bekanntgabe, das Präsidium in Westlake schließe den Fall bezüglich Elijah Dentmans Verschwinden ab und begnüge sich damit, dass der Junge sich verletzt habe und ertrunken sei. Neben den Zeilen prangte ein unzureichendes Schwarz-Weiß-Foto von Polizeichef Strohman. Auch wenn es nicht eben durch Schärfe glänzte, erkannte ich, dass der Mann souverän aussah und gut gebaut war. Er trug einen feingeschnittenen Anzug aus dunklem Stoff statt der erwarteten Uniform und hatte das verschlagene Grinsen eines Washingtoner Lobbyisten. Paul Strohman entsprach in keiner Weise dem Bild, das man sich vom Chef einer Polizeieinheit irgendeines Hinterwäldler-Kaffs in den Bergen machte.

Davids Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge wie ein Schiff, das eine Nebelbank durchbrach. Ich stand wieder in seinem Wohnzimmer und er feuerte Fragen auf mich ab: »Sind Sie ein Cop? Hat Strohman Sie geschickt?«

»Behalten Sie im Hinterkopf, dass nichts von dem, was uns hier vorliegt, handfest ist. Wir haben nur ein weitere Tür geöffnet, gehen einer anderen Spur auf den Grund.«

Einem anderen Beweisstück, präzisierte ich in Gedanken.

»Genau genommen«, fuhr Earl mit einem erneuten Griff in den Akkordeonordner fort, »liest sich die Vorgeschichte der Dentmans allgemein recht betrüblich. Der Apfel fiel in ihrem Fall nicht weit vom Stamm.« Er zog weitere Seiten heraus, liniertes und von ihm selbst eng beschriebenes Papier. Er berührte fast seine Nase damit, um es lesen zu können. »Davids Schwester …«

»Veronica«, warf ich ein.

»Sie lebte in regelmäßigen Abständen in Nervenheilanstalten, zuletzt in Crownsville im Osten, bevor man den Laden vor ein paar Jahren dichtmachte.«

»Wie lange?«

»Sechs Monate, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie genau man die Informationen nehmen darf.«