Welche Quellen er dafür herangezogen hatte, fragte ich ihn nicht.
»Wer sich in der Zeit um ihren Sohn kümmerte, konnte ich nirgendwo in Erfahrung bringen.« Earl fuhr fort, bevor ich ihn noch fragen konnte. »Ich tippe aber auf David.«
»Nicht den Vater des Kindes?«
»Den kennt ja niemand. Aber ich habe meinen Informanten Veronicas Hintergrund offenlegen lassen. Ihr polizeiliches Führungszeugnis war sauber.« Er pochte auf die Kopie von Davids Akte, die ich auf den Tisch gelegt hatte, und sprach weiter: »Diese Adresse in West Cumberland, die er als offizielle angab, ist die gleiche wie ihre. Davor lebten die beiden allem Anschein nach gemeinsam in Dundalk. Dann ein kurzer Aufenthalt in Pennsylvania –«
»Lassen Sie mich raten«, unterbrach ich. »Selbe Adresse.«
Er legte beide Hände flach auf den Plastikbezug der Tischplatte und lehnte sich so nah zu mir, dass ich seinen Bieratem roch. »Die zwei wohnen zeit ihres Lebens zusammen. Sie hat wohl ein paar Schrauben locker, wenn ihr Bruder so auf sie achtgeben muss, schätze ich.«
»Auf sie und das Kind«, ergänzte ich. »Womit verdient der Mann überhaupt sein Geld?«
»Er ist Handwerker. Ich fand heraus, dass er als Schreiner Mitglied in einer Gewerkschaft hier im Bundesstaat ist.«
Ich dachte an die behelfsmäßigen Trennwände überall in meinem Keller und das einer Gefängniszelle gleichkommende Kinderzimmer, das hinter den Gipsplatten versteckt war. Wie ich all dies Revue passieren ließ, stand Earl auf und ging noch zwei Bier aus dem Kühlschrank holen.
»Jetzt begreifen Sie auch, weshalb ich nicht will, dass etwas diese Wände verlässt«, sagte er, nachdem er sich wieder hingesetzt und mir eine Flasche angeboten hatte. »Ich ziehe diese Reportersache jetzt schon seit über zehn Jahren durch, aber auch wenn ich mich hin und wieder scherzhaft als Woodward und Bernstein bezeichne, verstehe ich doch etwas von journalistischer Recherche. Im Laufe der Zeit habe ich eine Reihe von Quellen etabliert, auf die ich zurückgreifen kann, und nichts liegt mir ferner, als jemanden, der mir nahesteht, um seinen Job zu bringen, nur weil er den Hirngespinsten eines verrückten alten Mannes nachgegeben hat.«
Ich nahm einen kräftigen Zug aus der kalten Flasche. Die Flüssigkeit erfrischte mich, es kribbelte vom Hals bis zum Steiß angenehm. Ein Geistesblitz durchfuhr mich.
»Sie wussten von Anfang an, dass etwas faul war.« Ich formulierte es nicht als Frage. »Andernfalls hätten Sie Ihre Hintermänner nicht darum gebeten, die Vergangenheit von David und Veronica zu durchleuchten.« Ich beugte mich über den Tisch. »Ich halte Sie für einen guten Journalisten, wirklich. Etwas an diesem Fall störte Sie von Anfang an, richtig?«
Earl stellte sein Bier auf den Tisch, hielt schulmeisterlich einen Finger hoch und erhob sich wieder, diesmal mit einiger Mühe. Nachdem er sich wieder zur Anrichte begeben hatte, wühlte er erneut in den Papieren. Beim Sprechen blickte er halb über die Schulter. »Reden Sie nur weiter. Ich denke, wir beide sind an einer Sache dran.«
Ich erzählte ihm von dem Zimmer im Keller und Elijahs zurückgelassenen Sachen, die hinter jener Mauer versteckt worden waren. Danach musste Earl von Ira Steins schauriger Mutmaßung erfahren, der Junge habe angeblich den toten Hund seiner Frau ausgebuddelt und sich damit aus dem Staub gemacht wie ein Grabräuber in irgendeinem alten Universal-Horrorstreifen. Ich schilderte ihm, was mir bei den Dentmans in West Cumberland widerfahren war. Er hatte aufgehört, den Papierkram zu durchsuchen, und drehte sich mit erstauntem, aber auch ein wenig neidischem Grinsen zu mir um. Zuletzt umriss ich meine beunruhigende Konfrontation mit David sowie das Gespräch mit Veronica, das wenig Erhellendes zutage gefördert hatte.
»Dass sie ihr halbes Leben Stammgast in Irrenhäusern war, wundert mich überhaupt nicht«, fasste ich zusammen. »Mit dieser Frau zu sprechen, war, als würde man mit einem von Jack Finneys Leuten reden.«
»Sind Sie sicher, dass das nicht mit ihrer Trauer um ihren Sohn zusammenhing?«
»Zuerst dachte ich das auch, aber dann … Ich sage Ihnen, bei den beiden liegt einiges im Argen. Sie wirkte ihres Bruders wegen extrem verstört.«
»Hier.« Earl hatte endlich gefunden, wonach er gesucht hatte. Er humpelte zurück zum Tisch und gab mir ein Bündel Fotos im Kleinformat.
Beim Durchsehen legte mir der alte Mann die Hand auf die Schulter. Kurz empfand ich Mitleid für ihn und kam nicht umhin, mich zu fragen, wie er zu seinem entfremdeten Sohn gekommen war.
Erst nachdem ich mehrere Bilder durchgesehen hatte, erkannte ich den Ort, an dem sie geschossen worden waren. »Das ist mein Garten. Ich habe ihn noch nicht im Sommer erlebt; all die Blätter, grünen Büsche und Blumen in voller Blüte. Haben sie die gemacht?«
»Annie Leibovitz, erinnern Sie sich?«
Eines zeigte auch den See, den der Wald ringsum wie ein schwerer Schleier einhüllte. Polizisten standen zu mehreren an der Spitze des Gewässers, gerade als zwei Taucher aus dem Wasser kamen. Den Vordergrund eines zweiten Fotos prägte der Kühlergrill eines Streifenwagens, der auf der Wiese am Fuß der Anhöhe parkte. Auf einer Reihe weiterer sah man David im Verhör mit den Beamten, deren Mützen sein Gesicht zumeist verdeckten. Das letzte Motiv gab Veronica ab, die abseits allein stand und zwischen den Bäumen nur schwerlich zu erkennen war. Sie starrte mit dem gleichen entseelten, wahnhaften Gesichtsausdruck, mit dem sie mich vor ihrer Tür empfangen hatte, vor sich hin.
»Dieses meinte ich«, bedeutete Earl hinter mir, nachdem er sich alle Fotos mit angesehen hatte. »Der Abzug jagte mir noch tagelang, nachdem ich ihn entwickelt hatte, einen Schauer über den Rücken. Wie Sie schon sagten: Es geht über das hinaus, was man von einer Mutter im Schockzustand oder in Trauer erwartet. Ich würde gerne wissen, wie sie auf Sie wirkt. Sie sind der Schriftsteller; welche Beschreibung fällt Ihnen ein?«
Ich dachte lange und gründlich nach, bevor ich einräumte, dass sie absolut entsetzt aussah.
»Richtig«, stimmte Earl zu. »Zu Tode geängstigt.«
Da war noch etwas, das mich an den Bildern störte. Ich ging sie ein zweites und drittes Mal durch, versuchte herauszufinden, was es war, kam aber nicht darauf.
»Wie Sie sich unschwer vorstellen können, kamen und gingen an diesem Nachmittag eine Menge Leute«, erklärte Earl. »Ich mischte mich unters Volk, und nach einer Weile beachtete mich niemand mehr. So gelang es mir, die Cops bei Davids Verhör zu belauschen. Der Typ blieb ruhig bei ihren Fragen. Als Veronica an die Reihe kam, sagte sie gebetsmühlenartig das Gleiche: ›Ich habe geschlafen. Ich habe geschlafen.‹ Irgendwann verlangte David von den Ermittlern, sie in Ruhe zu lassen, sie sei zartbesaitet, und man wühle sie so nur noch weiter auf.« Er schüttelte den Kopf. Sein Blick wirkte abschweifend, glasig. »Ich höre es noch genauso deutlich wie damals: ›Ich habe geschlafen. Ich habe geschlafen.‹«
»Glauben Sie, jemand hat ihr das eingetrichtert?«
»David?«
»Wer sonst?«
»Möglich ist es. Jedoch kann man bei dieser Frau nicht sicher sein. Ich glaube nicht, dass je ein Wort normal klang, das sie geäußert hat. Darauf würde ich wetten.«
»Hmmm«, brummte ich, während ich die Fotos in der Hand auffächerte. »Sie haben vermutlich recht.«
»Keines davon wurde je abgedruckt.« Noch immer lehnte er sich über meine Schulter. »Die fette Figgis hielt sie für zu brutal für The Muledeer.«
»Die fette Figgis?«
»Jan Figgis, die Chefredakteurin«, erklärte er, »würde man sie in Gold aufwiegen wäre sie steinreich.«
»Darf ich die mitnehmen?«
»Die Bilder? Klar doch, nur zu.«
»Danke.« Ich schob die Abzüge in einen meiner Blöcke. »Tun Sie mir noch einen Gefallen?«