»Hab keine Angst vor mir.«
»Ich habe keine Angst vor dir, sondern um dich.«
»Hör zu –«
»Nein, hör auf.« Sie holte bebend Luft. »Versteh mich und sei nicht böse. Ich werde über Nacht bei Beth und Adam bleiben. Du sollst wissen, dass ich dieses Haus nicht wieder betreten werde, bis dieses Zimmer geräumt ist, du den ganzen Plunder fortgeschafft und die Wand geschlossen hast. Hast du mich verstanden?«
»Du überreagierst.«
»Drücke ich mich verdammt noch mal klar aus?«
Mich fröstelte. »Ja«, krächzte ich.
»Okay.« Jodie nahm die Treppe und war schon halb oben, als sie innehielt. »Ich liebe dich, aber wenn ich vortäuschen würde, es sei alles in Ordnung, täte ich dir keinen Gefallen.«
Ich horchte, wie sie die restlichen Stufen in ihren schweren Schuhen nahm, und im Erdgeschoss auf die Bohlen trat. Es raschelte, und kurz darauf knallte die Haustür. Falls sie eine Tasche gepackt hatte, war diese wahrscheinlich bereits drüben bei Adam.
Einen ganzen verfluchten Tag? Ich habe hier übernachtet? Ich lachte allein schon deshalb, weil es mir so abstrus vorkam, doch genauso erschreckte es mich, und zwar nicht wenig. Die Kälte drang bis zu den Wurzeln meiner Seele.
Etwas bewegte sich hinter mir in Elijahs Zimmer, und als ich mich umdrehte, sah ich zunächst nichts Außergewöhnliches. Bei näherer Betrachtung aber stellte ich fest, dass zwei der farbigen Holzklötze – ein gelber und ein grüner – auf dem Schreibtisch lagen. Einer stand hochkant, der andere balancierte horizontal obendrauf, sodass sie gemeinsam ein großes T ergaben.
Ich brüllte richtiggehend auf, als oben das Telefon klingelte, raste die Treppe hinauf und riss den Hörer von der Küchenwand. In Erwartung von Adams strenger, maßregelnder Stimme, die mich anschrie. Ich meldete mich mit stahlharter Entschlossenheit in der Stimme.
»Travis? Earl Parsons hier.«
Ich räusperte mich und entschuldigte mich für meine anfängliche Schroffheit. »Ich hielt Sie für jemand anderen. Ist alles klar bei Ihnen?«
»Klar wie Regen.« Dem Geräusch nach zu schließen, aß er gerade. »Ich habe Althea Coulter aufgespürt.«
Ein gewisses Siegesgefühl konnte ich nicht verhehlen. »Fantastisch. Sagen Sie mir bitte, dass sie noch lebt.«
»Schätze, das ist Ansichtssache. Sie wird stationär im Frostburger Krankenhaus behandelt: Strahlentherapie. Ich habe just mit ihrem Sohn gesprochen, nachdem ich mich als alter Freund der Frau ausgab, und er meinte, sie liege in den letzten Zügen.«
»Krebs«, subsumierte ich kurz und bündig. »Jesus.« Augenblicklich wurde ich klar im Kopf. »Ich kann niemandem auf dem Sterbebett im Krankenhaus mit Fragen drangsalieren.«
»Dann lassen Sie es bleiben.« Earl hob zu einem einigermaßen verträglichen Vorschlag an: »Besuchen Sie sie, nehmen Sie einen Blumenstrauß mit und sorgen Sie dafür, dass sie sich gut fühlt. Ihr Sohn sagt, sie sei recht einsam, obwohl er versuche, sie so oft wie möglich zu sehen. Vermutlich kämen Sie ihr sogar entgegen.«
Ich atmete tief ein und sah erneut, wie Jodie in der Waschküche verharrte. »Ich verhalte mich ziemlich egoistisch, nicht wahr?«
»Kommt darauf an«, wog Earl ab. »Tun Sie das alles denn für sich oder Elijah Dentman?«
Ich dachte lange nach. »Sowohl als auch.«
Nachdem ich mir die Nummer von Altheas Krankenzimmer in der Handfläche notiert hatte, dankte ich Earl für seine Mühen. Er bat mich, ihn über alle weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten, und ich versprach, ihn sofort in Kenntnis zu setzen, sobald sich etwas herauskristallisierte.
»Sie glauben wirklich, dass wir einer heißen Spur folgen, oder?« Obwohl er die Stimme am Ende des Satzes zur Frage hob, wusste ich genau, dass er das Gleiche wie ich empfand.
Als ich auflegte, bemerkte ich etwas auf dem Küchentisch und trat näher. Es waren zwei herausgerissene Zeitungsartikel. Ich musste nicht genauer hinsehen, um mich zu vergewissern, dass es die Berichte zu Elijahs angeblichem Unfalltod waren, die ich aus der Stadtbücherei gestohlen hatte; sie waren an den Falzen erkennbar, wo ich sie gefaltet hatte, um sie einzustecken. Hinterher waren sie wohl in meiner Hose geblieben, und Jodie hatte sie beim Umstülpen der Taschen für die Wäsche entdeckt.
Ausgebreitet wie Beweismittel in einem Mordfall vor Gericht verursachten diese gedruckten Nachrichtenfragmente ein schweres, unbeschreibliches Beben tief in meinem Inneren.
Kapitel 23
Ich hatte mich mit einem dicken, pelzverbrämten Parka und einem Paar Wollhandschuhen gegen die Witterung gewappnet und fuhr auf den Besucherparkplatz vor dem Frostburg Medical Center, einem breiten Backsteingebäude. Neben mir auf dem Beifahrersitz vibrierte eine niedrige Grünpflanze im Takt des Automotors.
Von außen sah das Krankenhaus wie eine altertümliche Kathedrale aus, spitze Giebel im gotischen Stil, und die Flügel umsäumt von einem schwarzen Gitterzaun mit Speerspitzen. Ein langer Schotterweg erstreckte sich wie ein Flussarm hinauf zur automatischen Tür, die sich unter einem mit robusten Stützpfeilern ausgestatteten Vordach befand. Die Fenster waren schmal und mit Maschendraht abgesichert, während der steril weiße Anstrich der Ziegelfassade einen Eindruck von Knochen vermittelte, auf die der Verbrennungsofen wartete. Hinter dem Gemäuer ragte eine Reihe erhabener Kiefern auf, riesengroß und schneebedeckt. Von dort aus, wo ich den Wagen abgestellt hatte, sah ich über dem Gesims knapp unter dem Dach ein schweres Vogelnest aus Stöckchen und dünnen Zweigen herabhängen. Passend dazu wachten zwei gewaltige Falken an beiden Seiten der Wand.
Ich stieg aus dem Auto. Die Kälte war scharf und es roch intensiv nach Winter. Ich zog meine Marlboros heraus und steckte mir eine in den Mund, dann entflammte ich sie mit dem Feuerzeug im Schutz meiner hohlen Hand gegen den Wind.
Das Foyer der Klinik kam mir vor wie ein Uterus. Den Boden hatte man mit zweckdienlich braunem bis orangefarbenem Teppich ausgelegt (dem speziellen Braun, das man nur in Krankenhäusern zu sehen bekommt), und über meinem Kopf brummten große Gasentladungslampen.
Den Nummernschildern an den Wänden folgend, geriet ich auf einen langen, klaustrophobisch engen Flur. Er war ungewöhnlich schlecht beleuchtet, und vom Personal fehlte jede Spur, auch am Ende des Gangs, wo mehrere Schreibtische als Empfang fungierten. Diese Station suchte niemand für routinemäßige Nachuntersuchungen oder wie auch immer geartete chirurgische Eingriffe auf. Nein, dieser Ort besaß etwas Endgültiges, denn die Menschen, die hier landeten, wussten nur zu gut, dass sie ihn nie mehr verlassen würden. Das Prozedere, Patienten gesund zu entlassen, kannte man hier nicht.
Bevor ich das Zimmer aufsuchte, dessen Nummer mir Earl am Abend zuvor übermittelt hatte, zog ich mich auf eine Männertoilette zu einem Waschbecken zurück. Am Morgen hatte ich mich hastig geduscht, mich aber weder rasiert noch die Haare gewaschen. Mein Gesicht war blass eingefallen mit hochstehenden, schwarzen Härchen an den Wangen, die sich wie Spinnenbeine kräuselten. Dunkelrote Halbmonde zeichneten sich unter meinen Augen ab, die ihrerseits stark gerötet waren und aussahen wie mit Plastiklack überzogen. In brauner Cordhose, dickem Strickpulli und Flanellweste unter meinem Skiparka sah ich aus wie ein Obdachloser, der sich gerade von draußen ins Warme gestohlen hatte.
»Hätte mich wenigstens rasieren können«, brummelte ich mein Spiegelbild an. Dann drehte ich einen der Wasserhähne auf, wusch mein Gesicht und strich die zu langen Haare glatt, wobei ich die Knötchen so gut es ging mit den Fingern löste.
Als jemand aus einer Kabine hinter mir trat, fuhr ich zusammen. Der Mann nickte in stiller Höflichkeit und ging hinaus, ohne sich die Hände zu waschen. Vermutlich hatte er mein Gemurmel mitbekommen und nahm das Risiko einer von Toilettenkeimen übertragenen Krankheit in Kauf, um sich meine Gesellschaft zu ersparen.