»Gut für ihn.«
»Jetzt braucht er nur noch einen besseren Job. Die Jugend heutzutage hat es nicht leicht, etwas zu finden, wenn sie die Schule verlässt.«
»Besucht er sie oft?«
»Nicht mehr. Es ist hart für ihn. Ich nehme es ihm nicht übel.«
»Meine Mutter starb vor mehreren Jahren an Brustkrebs. Sie kämpfte eine Weile. Es war schwer für sie. Für meinen Bruder und mich auch.« Natürlich musste ich dabei wieder an ihre Beerdigung denken und wie Jodie mich in Rage aus Adams Haus geschleift hatte.
»Ich habe es im Magen«, sagte Althea. »Sie schnitten Stückchen heraus. Ein bisschen schnipp-schnipp hier, ein bisschen dort, aber es liegt nicht an den Schmerzen, dass es so schrecklich ist. Es sind die Beschwerden. Morgens wird mir regelmäßig übel. Es ist hart etwas zu essen. Noch dazu kann ich nachts nicht schlafen.«
»Und man kann nicht mehr für Sie tun?«
»Was denn? Was bleibt übrig? Schauen Sie sich die hier an.«
Sie streckte vorsichtig die Arme aus. Diese waren so dünn und röhrenförmig wie Papprollen von Klopapier. Ein Netz dicker, blauschwarzer Adern schimmerte unter ihrer Haut. »Ausgezehrt. Sie stechen mich mit Nadeln, dass ich mir vorkomme wie ein Sieb.« Sie klang nicht verdrossen, sondern im Gegenteil unterschwellig humorvoll. Dann seufzte sie. »Wir schießen Astronauten auf den Mond, Radiowellen durch den Äther und was sonst noch alles, doch die Geheimnisse hier unten auf der Erde, die Rätsel des menschlichen Körpers bleiben weiterhin unergründet.«
»Tut mir leid«, bekundete ich. »Ich gehe lieber, wenn ich Sie zu sehr aufrege.«
Althea schien, als wolle sie mit einer Hand abwinken. »Der Tod ist das, was mich aufregt. Die Leute sind flüchtige Erscheinungen, die ein- und ausgehen. Man hört zu, lässt sich Krankengeschichten erzählen und tauscht sie aus wie Baseballkarten. Welcher normale Mensch will das aber?«
»Ich nicht.«
»Ich auch nicht.« Sie schaute zuerst auf mich und dann auf ihren Michael, was mich glauben ließ, sie suche nach irgendeiner Gemeinsamkeit zwischen uns, obwohl sie nur schwerlich fündig würde. »Sie sagten, Sie seien verheiratet, bilde ich mir ein. Haben Sie auch Kinder?«
»Nein, Ma‘am.«
»Wenn Sie länger bleiben und plaudern wollen, mein Freund, dann hören Sie lieber auf, so verdammt höflich zu sein. So was brauche ich nicht. Das ist lächerlich.«
»Verzeihung. Ich werde versuchen mich ungehobelter auszudrücken.«
Althea räusperte sich, was etwas länger dauerte. Abgesehen vom durchdringenden Rasseln ihrer verschleimten Bronchien kämpfte sie mit Tränen, die schließlich an den Konturen ihres Gesichts hinunterliefen. Ihren Schädel unter der dünnen, straffen Haut auszumachen, war erschreckend einfach. Schlussendlich, ihre Luftröhre klang wieder frei und sie wischte die fehlgeleiteten Tränen mit beiden Handrücken weg, sprach sie weiter: »Wie kommt es nun, dass Sie eine seltsame Lady besuchen, der Sie nie zuvor begegnet sind?«
Ich hatte mir die Konversation penibel zurechtgelegt, um Althea gesprächig zu machen, wie zuvor Ira und Nancy … doch als ich die Frau ansah, wurde mir schlagartig bewusst, dass sie meine Lüge ohne Weiteres durchschauen würde. Sie kann geradewegs in den Abgrund meiner Seele blicken, dachte ich und zweifelte nicht im Geringsten daran.
»Glauben Sie an Geister?« Ich wusste nicht, was ich sagen würde, bis ich die Worte geäußert hatte. Seit wir nach Westlake gekommen waren, musste ich diese Frage irgendwo anbringen, doch erst jetzt glaubte ich, die richtige Person gefunden zu haben, die eine Antwort darauf wusste.
»Geister?«, hakte Althea nach, als habe sie sich verhört.
»Ja«, bestätigte ich. »Ich weiß, das klingt verrückt.«
»Sie sind doch kein Polizei Officer, oder doch?«
»Nein«, sagte ich und dachte an: Sind Sie ein Bulle? Hat Strohman Sie geschickt? »Ich bin Schriftsteller.«
»Ein Schriftsteller, der eine alte Frau über Geister ausfragt?«
Ich lächelte wohlwollend und rieb mir die Hände zwischen den Oberschenkeln. »Wissen Sie, was Elijah Dentman zugestoßen ist? Er ertrank letzten Sommer im See hinterm Haus.«
»Ich las es in der Zeitung.« Sie starrte ihre krummen Finger auf der Bettdecke an. Ihre Knöchel sahen aus wie Knoten eines Galgenstricks.
»Das Unglück beschäftigt mich«, ließ ich sie wissen. »Die Tatsache, dass man seine Leiche nicht gefunden hat, lässt mich nicht los. Die Schludrigkeit von Westlakes Gesetzeshütern bei den Ermittlungen halte ich für unerhört. Was dem Jungen zugestoßen ist, geht über einen Unfall hinaus, aber ich kann es nicht beweisen, also bin ich hergekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Und was glauben Sie, könnte ich Ihnen sagen?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Vielleicht nichts. Allerdings kann es sein, dass Sie etwas wissen, dessen Wichtigkeit Sie nicht bemerkt haben – etwas, das ich dem, was ich bisher herausgefunden habe, zufügen kann, um das Puzzle zu vervollständigen.«
Althea schaute mich emotional ungerührt an. Falls sie nach meinen Ausführungen etwas fühlte – überhaupt irgendetwas –, bezeugte ihre Miene es nicht. »Seien Sie so gut und öffnen Sie die Jalousie, bitte«, sagte sie letztlich im trägen Ton.
Ich stand auf und trat vors Fenster. Ein Plastikrohr, das ungefähr so dick wie ein Kugelschreiber war, pendelte an der Seite. Ich drehte daran, bis sich die Lamellen öffneten, dann schob ich sie von der Scheibe fort. Draußen schien weder die Sonne, noch raubte ein strahlend blauer Himmel den Atem; nur dichte Quellwolken zogen müßig vorbei. Die Landschaft wirkte ausgehöhlt und farblos wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Ich sah mein Auto auf dem Parkplatz. Darüber zwei Falken, deren Nest ich zuvor am Sims entdeckt hatte. Sie kreisten nun scheinbar hungrig in der Höhe, als warteten sie auf das Ableben ihrer Beute – meines Hondas?
Als ich mich umwandte, besah Althea einmal mehr das Foto ihres Sohnes auf dem Nachtschrank. »Was genau schreiben Sie?«
»Romane.«
»Welcher Art?«
»Eher düsteres Zeug. Horrorbücher. Mystery. Menschen, die Gespenster aus der Vergangenheit hinterher jagen, sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinn.«
Desinteressiert versuchte sie sich zur Seite zu lehnen, um es sich einigermaßen bequem auf den Kissen zu machen. Ich würde sagen, dass es ihr Schmerzen verursachte. »Ich persönlich«, sprach sie dann, »bevorzuge Liebesromane. Haben Sie jemals etwas Romantisches geschrieben? Eine Lovestory?«
»Auf diese Art beginnen alle«, antwortete ich, und es entsprach der Wahrheit. Althea schaute aus dem Fenster. Ob sie das Wetter enttäuschte oder genau dieses erwartet hatte, konnte ich nicht sagen. Überhaupt schien diese Frau nur schwer fassbar zu sein.
»Ich weiß nicht, was Sie sich von unserem Gespräch erhoffen«, gab sie nach einer Weile zu bedenken.
»Wie lange haben Sie Elijah unterrichtet?«
»Etwas länger als einen Monat. Das County hat mich dazu beauftragt, vermutlich nachdem irgendwem aufgefallen war, dass es dort einen Jungen im schulpflichtigen Alter gab. Jedenfalls nahm man seine Mutter unter die Lupe.«
»Veronica.«
»Ja, Veronica.«
»Kannten Sie ihren Vater Bernard Dentman? Soweit ich weiß, kehrte Veronica mit ihrem Bruder David nach Westlake zurück, um ihn bis zu seinem Tod zu pflegen.«
»Das deckt sich mit dem, was mir zu Ohren kam, aber ich kannte den Mann nicht, denn er war schon tot, als ich dort anfing.«
»Weshalb blieben Sie nur einen Monat?«
»Weil mir der Krebs zunehmend zu schaffen machte.«
»Tut mir leid.«
»Und außerdem konnte ich nur wenig bei dem Jungen ausrichten.«
»Wieso?«