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»Er war anders.«

Ich entsann mich der Beschreibung, die Adam mir nachts nach der Weihnachtsfeier gegeben hatte, Elijah war geistig ein wenig zurückgeblieben, weshalb er Heimunterricht bekam …

»Ich bezweifle stark, dass man ihn je richtig von einem Arzt untersuchen ließ«, fuhr Althea fort, »aber für mich war das Kind autistisch veranlagt.«

»Was macht sie da so sicher?«

»Ich spürte es einfach. Er hatte Kommunikationsschwierigkeiten und wusste sich nicht richtig auszudrücken. Für einen gewöhnlichen Zehnjährigen hing er in seinen Fähigkeiten weit zurück. Er sprach abgehackt und stotterte wie der Motor eines Traktors bei Kälte. Selbst einfachste Mathematikaufgaben wurden zum Problem und er versteckte sich unterm Küchentisch. Manchmal ließ er sich mit Keksen locken, aber oft blieb er dort sitzen, bis ich aufbrach. So begann die Beziehung zwischen mir und dem Kleinen, um genau zu sein. Ich brachte Süßigkeiten mit und bot sie ihm zu Beginn jeder Stunde an.«

»Wie verstanden Sie sich mit der Mutter?«

»Sie liebte ihn sehr. Jedoch war sie als Mensch ebenfalls gebrochen. Mir kam es immer so vor, als leide sie nach irgendeinem Schicksalsschlag – vermutlich in ihrer Kindheit – unter einem Trauma. Elijahs Erziehung machte ihr zu schaffen.«

»Was wissen Sie über seinen Onkel David? Wie verhielt er sich dem Jungen gegenüber?«

»Ich bekam ihn kaum zu Gesicht«, sagte sie. »Wenn ich unter der Woche nachmittags vorbeikam, war Mr. Dentman meistens arbeiten.«

»Aber Sie sind ihm begegnet?«

»Ja.« Ein beklommener Ruck ging durch Altheas Stimme. »Zwei Tage hintereinander, als sich mein Monat bei den Dentmans zum Ende neigte, öffnete er mir die Haustür, nachdem ich geklopft hatte. Natürlich wusste ich, wer er war, denn der Kleine hatte zu mehreren Gelegenheiten über seinen Onkel gesprochen. Persönlich untergekommen war er mir bis dahin aber nicht.«

Als sie nun lange ausatmete, klang es, als drücke jemand ein Akkordeon zusammen. Dann verzog sie das Gesicht zu einem Gewirr von Falten, die wie Rinnsale auf ihre Nase zuliefen. »Er war mir gegenüber sehr abweisend, machte auf und meinte, Elijah fühle sich nicht gut. Ich hatte den Mund halb geöffnet und wollte fragen, ob der Junge ernsthaft krank sei, auch weil Dentman selbst zu Hause geblieben war, doch er schlug mir die Tür vor der Nase zu, bevor ich etwas sagen konnte.«

»Das klingt ziemlich typisch«, erwiderte ich. »Und es ist zweimal geschehen?«

»Am nächsten Tag kehrte ich zurück und klopfte wieder. Erneut öffnete Mister Dentman, diesmal nur einen Spaltbreit, und sprach im exakt gleichen Wortlaut zu mir, Elijah ginge es nicht gut. Er sagte es auf wie ein auswendig gelerntes Zitat, doch ich war darauf vorbereitet und kam zu Wort, ehe er wieder zumachte. ›Sie wissen sicherlich, dass das County nur wenige Krankheitstage gestattet, wenn ein Kind Heimunterricht bekommt‹, sagte ich ihm. Das stimmte nicht, denn das Kind durfte genauso oft und lange krank sein wie jedes andere, aber die Ausstrahlung des Mannes beunruhigte mich. Nach dem ersten Tag hatte ich mir bereits die Nacht mit Gedanken über den Jungen um die Ohren geschlagen, und als Mister Dentman am zweiten mit der gleichen Masche kam, war mir klar, dass etwas nicht stimmte. So einfach wollte ich ihn nicht vom Haken lassen.«

»Wie hat er reagiert?«

»Er musterte mich durch den Türspalt, und erst, als er ganz aufmachte, wurde mir bewusst, wie groß der Mann war, was für breite Schultern und kräftige Arme er hatte. Sein Gesicht hingegen wirkte kindlich, sanftmütig und stellenweise rundlich weich, was überhaupt nicht zum Rest des Körpers passte. Ich weiß noch, dass etwas in seinem Gesicht mein Mitleid weckte.«

»Ich habe ihn auch getroffen«, sagte ich. Anders als Althea aber hatte ich angesichts von Davids Erscheinungsbild mitnichten Mitleid empfunden.

»Er vertröstete mich auf den folgenden Tag, wenn es Elijah wieder besser ging. ›Ich komme bestimmt wieder‹, versicherte ich ihm. ›Der Kleine hat einiges nachzuarbeiten.‹ Wissen Sie, mit diesen Worten wollte ich durch die Blume sprechen, und ein aufgeweckterer Kerl als Mister Dentman hätte es wahrscheinlich auch begriffen, aber ihm entging die Botschaft, die ich zu vermitteln suchte, offenbar gänzlich.«

»Vielleicht besser so. Ich hatte den Eindruck, dass ihn verschleierte Drohgebärden ziemlich kaltlassen.«

»Unnötig zu erwähnen, dass ich tags darauf wieder auf der Matte stand, und es war, als hätte es die beiden Vortage nie gegeben. David war nicht da, also öffnete Veronica, als ich klopfte. Elijah wartete bereits, und wir gingen seine Übungen auf die gleiche, bewährte Weise durch.«

»Wie hat er sich benommen?«

»Er war gewohnt still und in sich gekehrt, machte aber keineswegs den Eindruck, kürzlich krank gewesen zu sein.« Sie wusste, worauf ich aus war, und gab die Antwort der Frage vorweg, die ich als Nächstes gestellt hätte. »Ich untersuchte ihn rasch auf etwaige Verletzungen, natürlich. Wir sind dazu ausgebildet, das zu tun, selbst nur auf einen Verdacht hin, wenn wir das Gefühl hegen, etwas laufe aus der Bahn.«

»Haben Sie etwas entdeckt?«

»Nicht die kleinste Spur« , sagte sie und ich fühlte, wie meine Zuversicht schwand.

»Ich blieb aber neugierig«, fuhr Althea fort. »Vor dem Ende unserer Stunde sagte ich zu Elijah: ›Es sieht so aus, als fühlst du dich besser? Warst du denn gestern und vorgestern krank?‹ Er guckte nur mit seinen großen Kulleraugen und antwortete nicht, was aber nicht ungewöhnlich war, wenn man ihn kannte. Manchmal ignorierte er seine Mitmenschen bewusst, wofür er aber nichts konnte. Wie gesagt, ich war außerstande, ihm zu helfen. Er hätte von einem Spezialarzt behandelt werden müssen.«

»Haben Sie der Familie jemanden empfohlen?«

»Ja«, platzte sie heraus – so schnell, dass sie sogar vor dem Weiterreden Luft schnappen musste. »Ich wandte mich direkt an den Zuständigen auf dem Amt. Bis ich aber den nächsten Schritt wagen konnte, durchkreuzte der Krebs meine Pläne, und ich musste die Stelle aufgeben. Da war es bereits Sommer, eine sehr ungünstige Zeit, um irgendwelche Amtsbeschlüsse durchzudrücken, weil man die Ferien dort genauso auskostete wie unter Schülern, wenn nicht sogar intensiver. Bevor dann das neue Schuljahr begann …«

»War er tot.« Ich konnte die Ereignisse mittlerweile zeitlich treffend einordnen.

»Genau. Ich weiß noch, dass ich in der Zeitung davon las. Der Kleine tat mir furchtbar leid und seine Mutter auch. Sie war selbst eine verlorene Seele. Nicht zuletzt deshalb kamen mir die beiden häufig vor wie zwei Teile eines Ganzen. Mit Makeln behaftete Menschen, die sich vor lauter Angst aneinander klammern, um nicht aus dem Leben zu scheiden, sobald sie einander loslassen.«

Ich nickte. Wie genau sie den Nagel damit auf den Kopf traf, erschütterte mich. »Haben Sie Elijah an jenem Nachmittag weitere Fragen gestellt?«

»Oh ja. Sehen Sie, nachdem ich einmal zu stochern begonnen hatte, konnte ich nicht mehr ablassen.« Sie hob einen Arm und packte mich am Handgelenk, und ich stellte mir vor, wie der Krebs ihr Blut unter der Haut zum Kochen brachte. »Manchmal, wenn man etwas verfolgt, endet das manchmal in einer Jagd.«

Es ist ein Kommen und Gehen, rief ich mir wieder ins Gedächtnis.

»Ich fragte ihn erneut, ob er wirklich krank gewesen sei«, führte sie weiter aus, »doch er starrte mich wortlos an. Also packte ich es anders an, ich fragte ihn, ob er Ärger während der vorigen Tage hatte.« Sie senkte die Stimme, als säßen die Dentmans im Nebenzimmer, und sie wolle nicht belauscht werden. »Wenn man Kindern untersagt bestimmte Fragen zu beantworten, werden sie nur das antworten, was man ihnen eingetrichtert hat. Geht man aber von einem anderen Punkt aus – aus einem Winkel, auf den sie nicht vorbereitet sind –, erhält man die Antworten, die man sucht.«

»Und welche waren das in diesem Fall?«, fragte ich ebenfalls in gedämpftem Ton.