»Sozusagen«, erwiderte ich und fing zu grübeln an: Welche Theorie? Ich mache bestenfalls Andeutungen, fische im Trüben und brüte über einem handgeschriebenen, unvollendeten Romanentwurf. Weder gibt es ein Motiv, noch stichhaltige Beweise. »Mein Bruder arbeitet dort, und ich sprach mit ihm darüber.«
»Was hält er davon?«
Ich grinste. »Er meint, ich solle es mir aus dem Kopf schlagen. Angeblich verschwende ich meine Zeit und bewege mich im Kreis, weil ich grundlos auf der Jagd nach etwas bin, das ich zuvor bloß interessiert verfolgt habe, wie Sie es ausdrücken.«
Althea lächelte verschroben, was ihrem vom Sterben gezeichneten Gesicht einen noch finstereren Ausdruck verlieh. Der Tod pustete ihr kalt in den Nacken, und unverhofft erhaschte ich eine Ahnung davon. Es war der abgestandene Geruch der Verwesung, fast süßlich wie bei einer Mumie. Sie verlagerte ihr Gewicht. »Sind Sie mit Ihren Fragen durch?«
»Ja, Ma‘am.«
»Gut, denn ich habe auch eine an Sie«, kündigte sie an, »aber um sie stellen zu können, brauche ich etwas Wasser für meinen trockenen Hals. Im Schwesternzimmer den Flur hinunter gibt es welches. Sind Sie so nett?«
Ich ging hinaus. Hinter den rund aufgestellten Schreibtischelementen saß jetzt eine attraktive junge Krankenschwester mittleren Alters mit dunkelbraunem Teint und gepflegten Zähnen. Ich bat sie um ein Glas Wasser für Althea, und sie wollte es mir geben, fragte jedoch zuerst, ob ich mich bereits als Besucher eingetragen hätte. Ich verneinte, woraufhin sie umso mehr strahlte und mir ein Klemmbrett vorhielt. Daran hing ein Kugelschreiber an einem Stück Faden. Aus Gründen, die mir bis heute verborgen blieben, hinterließ ich mein Pseudonym Alexander Sharpe in Druckbuchstaben und gab ihr das Teil zurück.
»Fairer Tausch«, bemerkte die Schwester, nahm das Brett entgegen und reichte mir dafür eine halbvolle Wasserkanne von Tupperware sowie einen kleinen Plastikbecher, auf den jemand mit wischfestem Stift die Initialen des Krankenhauses geschrieben hatte.
Zurück im Zimmer, füllte ich den Becher und hielt ihn Althea hin, die wie ein Kind mit beiden Händen zugriff. Ich schaute ihr ein wenig beklommen zu, weil ich damit rechnete, dass sie sich entweder besudelte oder jeden Moment verschluckte, aber nichts von beidem geschah.
»Ahhh«, seufzte sie, nachdem sie den Becher geleert hatte. Nun wirkte sie viel schwächer als noch vor wenigen Augenblicken; die Todesuhr hakte eine weitere Minute ab, mit der sich Althea dem Unvermeidbaren näherte. »Gut, gut.«
Ich nahm ihr den Becher ab. »Möchten Sie noch mehr?«
»Nein, es sei denn, Sie wollen in schätzungsweise drei Minuten jemanden mit der Klingel rufen, der die Laken wechselt.« Althea winkte matt mit einer Hand, also stellte ich den Becher neben das Foto ihres Sohnes. »Das Zeug rutscht mittlerweile in einem durch.« Sie machte die Medikamente, die sie bekam, für ihr dünnes Blut verantwortlich.
In den Stuhl niederlassend, faltete ich die Hände zwischen den Knien und neigte mich nach vorn zu ihr. »Was wollten Sie mich fragen?«
»Sie erwähnten anfangs Geister.«
»Ja, und ich wollte wissen, ob Sie daran glauben.«
»Habe ich Ihnen eine Antwort gegeben?
»Nein.«
»Möchten Sie eine hören?«
Ich fühlte, dass sie mit mir spielte, konnte aber nicht anders und grinste: »Wenn Sie möchten.«
Sie wieherte wie ein junges Pferd, als sie die Arme reckte und das zerknitterte Laken wieder glattstrich. Dann atmete sie flach, aber geräuschvoll ein, derweil sie einen kritischen Blick aufsetzte, was ich auf das Bestreben hin zurückführte, meinen Charakter eingehender durchleuchten zu wollen. Sobald sie jedoch die Stimme hob, bemerkte ich, dass sie sich ihrer Jugend entsann und den verwehten Fußspuren zurück in die Kindheit folgte.
»Im Sommer, als ich sechs Jahre alt war«, begann sie, »schlug sich meine Mutter mit allen möglichen Jobs kreuz und quer im Land durch. Sie müssen wissen, mein Vater war im Vorjahr mit einer anderen durchgebrannt, die er bei Orville – das war in Louisiana, wo ich aufgewachsen bin – im Drugstore kennengelernt hatte. Meine Mutter wollte das Wohlergehen ihres Kindes nicht von ihm abhängig machen. Er hatte uns mit nichts zurückgelassen außer den Kleidern an unserem Leib und einem baufälligen Kartenhaus drüben in Cameron. Wir benötigten ein Auto kurz nachdem er abgehauen war, und ich erinnerte mich daran, mit Mutter zum Gebrauchtwagenhändler an der Best Street gegangen zu sein, wo wir einen alten Chrysler für hundertfünfundsiebzig Dollar bekamen, der aussah wie nach einem Garagenbrand und ungefähr so verlässlich war wie der Mann, den Mutter auf dem ganzen Weg zurück nach Cameron verfluchte.
Die Arbeit, die sie verrichtete, bestand aus regelmäßigen Haushaltsdiensten an mehreren Orten in den gehobeneren Stadtvierteln. Das waren hochgiebelige Anwesen mit weißen Säulen und Gärten so üppig und weitläufig, dass man sich in der Tat darin verirren konnte. Auf ihrer Rundfahrt kehrte sie einmal pro Woche in jedem Haus ein, aber da ich zu klein war, um selbst auf mich aufzupassen, zumal es keinen Sinn ergeben hätte, einem Babysitter mehr zu zahlen, als sie beim Reinmachen in diesen Häusern verdiente, nahm sie mich mit. Die meiste Zeit über wartete ich in den Wohnzimmern auf irgendeiner teuren Couch auf sie und hielt die Hände fest verschränkt auf meinem Schoß, während ich fernsah. Mama ließ mich nichts essen oder trinken, nicht einmal einen Snack oder so, weil sie befürchtete, ich könne etwas verkleckern. Anderswo hockte ich an Küchentischen und malte Bilder, die ich den Eigentümern zurückließ. Sie glauben wohl, diese Leute sahen uns als niedere Hilfskräfte an und nicht mehr, was größtenteils stimmte. Andererseits müsste ich lügen, wenn ich behaupten würde, in die Häuser zurückgekehrt zu sein, ohne meine Zeichnungen an den Kühlschränken hängen zu sehen, als stamme es von deren eigenen Kindern.«
Sie blinzelte versonnen. Man sah, wie viel ihr dies bedeutete.
»Am liebsten hielt ich mich bei den Mayhews auf, einem netten Paar mit drei älteren Kindern, die alle ausgeflogen waren, um ein College zu besuchen. Ihr Haus war ein wunderbares Stück Architektur, für dessen Säuberung meine Mutter den ganzen Tag brauchte. Aber das Beste daran stellten der abschüssige Rasen sowie die umliegenden Gärten dar, die zu einem Palmenhain führten.
Dieser beschrieb die Grenze zwischen dem Grundstück der Mayhews und dem ihrer hinteren Nachbarn. Eines Nachmittags spielte ich zwischen diesen Palmen, als ich durch die Äste ein kleines Mädchen auf dem anderen Feld sah. Es war nur ein bisschen älter als ich, zierlich und bleich mit Knopfaugen wie eine eierlegende Henne. Selbst in meiner Jugend bemerkte ich ihre innere Zerbrechlichkeit. Sie trug einen Kopfschal mit Blumenmuster und hatte allem Anschein nach eine Glatze. Als sie mir winkte, freute ich mich und tat es ihr gleich, woraufhin sie loslief und in den Wald kam, wo sie sich hinter den Baumstämmen versteckte. So spielten wir den ganzen Nachmittag lang, bis Mutter von der Gartenterrasse aus rief, es sei an der Zeit, nach Hause zu fahren.
Als wir an einem anderen Morgen wieder einmal zu den Mayhews mussten, fragte sie mich, was ich den ganzen Tag unter den Palmen trieb, also erzählte ich ihr von meiner neuen Freundin. Auch ihre Kopfbedeckung erwähnte ich, und dass ich glaube, sie habe keine Haare mehr. Meine Mutter vermutete, die Kleine sei krank, weshalb ich nicht zu wild mit ihr herumtollen sollte. ›Wie heißt sie?‹, wollte Mama noch wissen, da fiel mir auf, dass ich ihren Namen nicht kannte. Genauer gesagt hatten wir kaum Worte gewechselt, sondern uns nur hinter den schmalen Stämmen oder breiteren Palmenblättern versteckt, wobei zwar reichlich Gelächter aufkam, nicht aber die Frage nach ihrem oder meinem Namen. Damit hatte Mama mir einen Floh ins Ohr gesetzt. An jenem Nachmittag, als das Mädchen wieder in den Wald gelaufen kam, entdeckte sie mich hinter einem moosbewachsenen Klotz. Ich stellte mich förmlich vor: ›Hallo, ich heiße Allie Coulter. Und wer bist du?‹ So in etwa sollte ich mich auf Mutters Geheiß hin stets bei den Leuten, für die sie arbeitete, kenntlich zeigen. Obwohl sie nichts mit den Eltern des Mädchens zu tun hatte, waren diese doch immerhin die Nachbarn der Mayhews, also hielt ich diese Formel für relativ angemessen.