»Dann hat David Dentman seinen Neffen getötet«, sagte mein Bruder.
»Ja.«
»Und diese Bilder stellen den Beweis dar?« Er zeigte darauf. »Diese … Bäume? Und eine falsche Aussage des verwirrten Mannes mit gebrochenem Herzen inmitten des Trubels, während man die Leiche seines Neffen suchte?«
»Ich weiß, wie es klingt«, gestand ich, »dennoch ändert es nichts an der Tatsache, dass –«
»Mann, es gibt keine Fakten.« Adam erschreckte mich, indem er über den Tisch griff und meine Hand in seine nahm. Zärtlich.
Ich kämpfte gegen den intensiven Drang an, mich zu entziehen, als habe er mich verletzt.
»Hör mir zu, okay? Wir haben den Fall untersucht. Dass unsere Taucher mit leeren Händen hochkommen, ist nicht unüblich, selbst wenn es sich um ein, wie du sagst, abgeschlossenes Gewässer handelt. Hast du eine Ahnung, wie groß dieser See ist? Kannst du dir vorstellen, wie viele Baumstämme, wie viel Windbruch und Gestein an seinem Grund liegen? Felsgrotten gibt es, und verborgene Abflüsse führen zu zahllosen anderen Strömen hier in der Gegend. An all diesen Stellen kann eine Leiche hängen bleiben beziehungsweise verschwinden. Für immer.« Er zuckte mit den Schultern, als hege er keine Hoffnung mehr. »David Dentmans Aussage, er habe das Kind am See gesehen, deckt sich nicht mit dem, was die Bilder zeigen, na und? Er sah ihn vielleicht doch, und Nancy Stein sowieso. Lügt sie etwa auch?«
Ich zog die Hand unter seiner heraus. »Nancy Stein sah ihn, weil sie mit ihrem Hund am Ufer spazieren ging. Von ihrem Haus aus sieht man die Treppe nicht. Das sagte auch ihr Mann.«
»Jesus, vielleicht ging der beschissene Wind, oder das Laub war doch nicht so –«
»Bullshit. Komm schon.«
»Und wo steckt die Leiche dann? Hätte David Dentman den Jungen getötet, ließe sie sich irgendwo finden.«
Stille senkte sich über die Küche. Ich hörte einzig das Ticken der Wanduhr hinter meinem Bruder. Es enervierte wie ein Industriemotor.
»Jetzt hör mir genau zu, Bruder, in Ordnung?« Adam beugte sich weiter über die Tischplatte, um mir noch näher auf den Leib zu rücken. Bestürzt sah ich, dass er mit den Tränen kämpfte. »Das hier ist kein Buch. Das ist das echte Leben. Welchem Rätsel du auch immer auf den Grund gehen willst: Lass dir gesagt sein, es gibt keins.«
Wütend und enttäuscht, wie ich war, konnte ich bloß geduckt sitzen bleiben und die Arme zum Schutz vor der Brust überkreuzen, während ein Bein unterm Tisch zuckte. Einmal mehr war ich ein aufmüpfiger Pubertierender im Büro des Schulleiters.
Adam biss sich auf die Unterlippe, wie er es schon in jungen Jahren getan hatte, wann immer er in eine Zwangslage geraten war. »Ich wollte dir das nicht sagen«, meinte er, »weil ich zuerst nicht wusste, wie ich es formulieren sollte, aber es muss sein, weil du es einfach nicht begreifst.«
»Du tust so, als sei ich heroinabhängig.«
»So führst du dich auch auf.«
»Fahr zur Hölle«, schnauzte ich, rückte auf dem Stuhl nach hinten und erhob mich.
Er blieb ruhig. »Nein, komm wieder runter. Wenn du den toughen Jungen markieren willst, schön, aber warte damit, bis wir hier fertig sind. Das ist wichtig.«
»Ich habe es satt, mir von dir sagen zu lassen, was ich tun soll.«
Adam holte tief Luft und versuchte es anders: »Dann setz dich eben für Jodie zu mir.«
Zähneknirschend gab ich nach.
»Jodie ist außer sich. Und wenn ich das sage, untertreibe ich sogar. Sie hat Angst, dass du wieder Depressionen bekommst wie nach Moms Tod –«
»Jodie hatte ihre Nase in zu viele Psychologiebücher gesteckt.«
»– und wie du dich nach Kyles Tod verhalten hast.«
»Jodie kannte mich da noch nicht einmal.«
»Aber ich. Ich habe gesehen, wie es dich mitgenommen hat.«
Mein Gesicht brannte, die Augen juckten.
Adam stöhnte. »Du dichtest dir etwas zusammen, weil du unheimlich gern den Helden spielen möchtest.«
Ich knickte die Zehen in den Stiefeln ein und wandte mich von ihm ab, nur um direkt auf ein gerahmtes Foto auf dem Schrank zu blicken, das uns bei seiner Hochzeit zeigte. Es ließ mich nicht los und verspottete mich zur gleichen Zeit.
»Du verrennst dich in dieser Sache, weil du dich damit von der Schuld an Kyles Tod reinwaschen willst.«
Mein ganzer Körper verkrampfte sich.
»Du kannst nicht ungeschehen machen, was mit unserem Bruder passiert ist«, bemerkte er knapp. »Egal wie viele erdachte Verbrechensfälle du löst, und ob du tausend Bücher darüber schreibst oder nicht – es steht nicht in deiner Macht, Kyles Unfall ungeschehen zu machen.« Er legte eine Pause ein. »Jetzt zerstörst du deine Ehe, um Fehler auszumerzen, die du in der Vergangenheit gemacht hast. Siehst du nicht, dass du in einen Teufelskreis geraten bist?«
Ich konnte keine Antwort geben.
»Travis?« Seine Stimme klang unendlich weit weg; als spreche er vom Mond zu mir.
Als ich mich von dem Foto abwandte, gluckerte giftiger Sud in meinem Magen.
Adam erhob sich und stapelte die Bilder aufeinander. Dann sah er auf die Uhr und kaute erneut an seiner Lippe. »Geh nach Hause. Lass dir meine Worte durch den Kopf gehen. Falls einige davon einen Sinn ergeben, sobald du morgen früh ausgenüchtert bist, kannst du Jodie anrufen, wie wäre das?«
Ich nickte benommen, richtete mich auf und nahm die Fotos vom Tisch. Adam begleitete mich zur Tür, meine Stiefel schmatzten und hinterließen auf dem Boden nasse Spuren. Ich rollte die Bilder zusammen. Meine Hände schwitzten stark.
»Geh«, verabschiedete er sich beim Öffnen der Tür. »Gönn dir ein wenig Schlaf.«
Ich trat ins Dunkle. Mein Schatten erstreckte sich vor mir in dem eckigen Paneel weichen Lichtes, das sich aus dem Haus ergoss. Während ich über die vereiste Auffahrt stakste, hallte das Geräusch, als Adam die Tür wieder schloss, durch die Sackgasse.
Ich zitterte.
Es war ein Fehler hierherzuziehen. Wir hätten im Norden Londons bleiben sollen. Mit Adam habe ich mich schon immer übers Telefon besser verstanden.
Beim Überqueren der Straße zog ich meinen Parka fester zusammen und duckte mich vor dem beißenden Wind. Irgendwo rechts von mir blitzten Scheinwerfer auf, die mich einen Moment lang mitten auf der Fahrbahn wie ein Reh einfroren. Ich machte die kantige Karosserie eines Pick-ups aus, der langsam am Bordstein vorfuhr. Es war ein altes, zweifarbiges Modell, und als ich mich der Fahrerseite näherte, roch ich die stinkenden Abgase aus seinem Auspuff.
Jemand kurbelte die Scheibe hinunter.
Am Steuer saß David Dentman.
Kapitel 26
»Steigen Sie in den Truck«, forderte Dentman. Die einzige Lichtquelle in der Kabine war das glühende Ende seiner Zigarette.
»Was machen Sie hier?« Ein eisiger Finger fuhr an meinem Rückgrat hinab.
»Ich suche Sie.« Er reckte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür, woraufhin die Deckenlampe anging und tiefschwarze Schattenkleckse über sein Gesicht huschten.
»Nein, wir können auch hier draußen reden.«
»Gott, Glasgow, seien Sie nicht so eine Pussy. Ich werde Ihnen nichts tun. Jetzt steigen Sie schon ein.« Er klang, als sei er dieses Geplänkel leid.
Es war ein dämlicher, vermutlich kolossaler Fehler, jener Art, welcher ein Kinopublikum dazu verleitet, den arglosen, aber wohlmeinenden Protagonisten mit unflätigen Namen zu bedenken. Aber ich entschied mich nicht grundlos dazu. Als ich vorne um Davids Wagen ging, streiften mich die Scheinwerfer kurz. Schließlich stieg ich auf der Beifahrerseite ein. Im Bewusstsein, dass ich die Fotos noch in der Hand hielt, stockte mein Atem. Gerade weil ich sie zu einem Röhrchen zusammengerollt hatte, fielen sie besonders ins Auge; genauso gut hätte ich sie ihm direkt unter die Nase halten können.