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Ein Friedhof.

»Weiter«, drängte Dentman. Er ließ meinen Arm los und bewegte sich auf den Zaun zu.

Eine Weile sah ich ihm nach, wie er voranging – sein enormer Schädel pendelte wie bei einer kaputten Spielzeugpuppe –, dann folgte ich. Wir erreichten einen schmalen Kiesweg, der sich durch eine Öffnung im Friedhofstor wand. Dentman trat hindurch, ohne auf mich zu warten, und bewegte sich die leichte Anhöhe zwischen den Gräbern hinauf, vorbei an Granitkreuzen, die wie Meilensteine aussahen.

Ich ging dem schwerfälligen Koloss hinterher, da ich weniger Sorgen um meine Unbescholtenheit verspürte als Neugierde – Neugierde und Endgültigkeit. Ich überquerte den Friedhofsrasen, die anhaltende Kälte forderte schlussendlich ihren Tribut. Ich hatte einen üblen Geschmack im Mund und atmete schwer, ich spürte den Puls an meinen Unterarmen. Wir passierten ein imposantes Mausoleum sowie mehrere Grabmarkierungen, die Engeln und Sternen nachempfunden waren. Ich versuchte aufzuschließen und eilte einen leichten Hang hinunter. Am anderen Ende des Friedhofs unter einer hohen Eiche sah ich ihn stehen bleiben. Er lehnte halb am schmiedeeisernen Zaun und schaute auf die Erde. Hätte ich es nicht besser gewusst, könnte ich glauben, er habe mich vergessen.

Andächtig näherte ich mich. Ein kräftiger Wind ließ die kahlen Äste der Eiche knarren. Vor uns standen zwei Grabsteine mit jeweils einem Namen darauf.

Am ersten:

BERNARD DENTMAN

Am zweiten:

ELIJAH DENTMAN

GELIEBTER SOHN UND NEFFE

Beide mit entsprechenden Geburts- und Sterbedaten versehen.

»Ich mag nicht der klügste Mann sein, Glasgow. Ich schreibe weder Bücher, noch gehe ich mit Anzug und Krawatte zur Arbeit. Aber genauso wenig bin ich ein Idiot. Ich durchschaue Sie. Ihresgleichen denkt, sie kommen mit allem durch, mit jeder verfluchten Sache, die sie wollen. Jeder verfluchten Sache in der Welt. Sie denken, das ganze beschissene Universum zerbrösle einfach zu Staub, sobald Sie nicht mehr da sind, um es zusammenzuhalten.«

»Das tue ich nicht.«

»Bullshit. Wissen Sie, über mich haben Sie Nachforschungen angestellt, aber dass ich das Gleiche mit Ihnen getan habe, ist Ihnen entgangen.« Er machte einen Satz auf mich zu, dass ich erschrocken aufkeuchte. Erneut drehte er mich um, dann betrachtete er den Grabstein aus hellem Granit, der noch nicht lange genug dastand, um von Schlingpflanzen und anderem Unkraut überwuchert zu sein. Geliebter Sohn und Neffe.

Ich fühlte einen Faustschlag auf meinem Rücken, zuckte vor Schmerz zusammen und ließ mein Notizbuch und die Tatortfotos fallen. Der Wind bekam die Fotos schneller zu fassen als ich und blies sie übers Friedhofsgelände.

»Sie knien auf dem Grab meines Neffen. Ich versuche, Ihnen ein bisschen Menschlichkeit einzubläuen, ein wenig Ehrfurcht. Mussten Sie jemals einen leeren Sarg begraben?«

»Lassen Sie … mich los …«

»Sie haben so viel über Geister, Mörder und tote Kinder geschrieben«, raunte er hinter meinem Rücken, seine Stimme getragen vom Wind. Er hätte ebenso gut zehn Stockwerke über mir brüllen können. »Nur zu. Frag das Grab all deine gespenstischen Fragen, die du hast, du Hurensohn. Mach schon.«

Ich wand mich in seinem Griff und forderte erneut, er solle mich verdammt noch mal loslassen.

Er tat es nicht. »Ich brauche keinen, der in meinen Angelegenheiten herumschnüffelt. Meine Schwester verkraftet das nicht, und ich werde nicht zulassen, dass du sie weiterhin folterst.« Sein Kopf nur knapp über meiner Schulter, spürte ich seinen heißen Atem im Nacken. »Pass auf.« Seine Lippen berührten beinahe mein Ohr, und die Worte waren praktisch nichts weiter als ein Flüstern. »Mein Vater war ein verkommener, elender Wichser, der mehr Unheil angerichtet hat, als irgendwer je hätte ertragen sollen. Ich nahm meine Schwester mit und zog sie groß. Bis zu meinem Tod gehört all mein Verantwortungsgefühl ihr. Bis zu meinem Tod. Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Besonders du nicht. Sie ist meine Schwester, und ich liebe sie … egal was ist.«

Ich schaffte es, mich umzudrehen und ihn anzusehen. Seine Augen waren die eines Wolfes – hungrig, verzweifelt und wild. »Die Polizei weiß Bescheid über Sie. Mein Bruder ist ein Cop. Er weiß, welcher Spur ich gefolgt bin. Töten Sie mich, dann wird man Sie diesmal erwischen.«

Dentman packte meinen rechten Unterarm. Sein Gesicht berührte beinahe meines, sein Atem stank. Da war nicht die kleinste Regung in seinem Gesicht – weder lächelte er, noch bleckte er die Zähne. Nur ein starres Gesicht, starrer Mund, starrer Kiefer.

In einem vergeblichen Versuch, meine Hand zu befreien, verlor ich das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf gegen Elijahs Grabstein. Explosionsartig schlugen Lichtblitze vor meinen Augen Kapriolen, und mir war, als neige sich die Welt auf eine Seite. Ich dachte an Feuerwerke und Projektoren, denen die Filmrolle entglitt. Blind griff ich nach Dentmans Shirt.

Scheinbar mühelos drückte er meine Rechte auf die Erde und trat mit dem Stiefel aufs Handgelenk. »Du dämlicher Bastard, wenn ich dich umbringen wollte, hätte ich es längst getan.«

Er schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Meine Augen tränten vor Schmerz, der sich von der Nase übers ganze Gesicht ausbreitete, ratterte wie ein rostiger Einkaufswagen mit verkrüppelten Rollen durch meinen Kopf. In diesem Augenblick war mir kaum nach Flucht zumute. Ich betete nur um einen raschen Tod ohne Pein. Alles was ich tun konnte, war den nächsten Treffer abzuwarten.

Aber er kam nicht. Stattdessen schleifte Dentman mich an den Armen ungefähr zwei Fuß vom Grabstein nach links und ließ mich auf die Seite wälzen.

Ich atmete einmal tief ein. Es tat in den Lungen weh, am Brustkorb. Ich konnte die Augen nicht öffnen, erst als ich wieder Luft bekam. Dann wurde ich Dentmans drohender Gestalt über mir gewahr und stellte mir einmal mehr vor, wie er die Pistole zückte, die ich mir zurechtgesponnen hatte, um mich im Stil eines Profikillers mit einem einzigen gezielten Kopfschuss wegzublasen.

Endlich öffnete ich meine Augen ganz und rollte auf meinen Rücken. Hustete. Spuckte. Immer noch sah ich alles nur verschwommen, aber es gelang mir, den Kopf zu drehen und meinen Angreifer auszumachen.

Sein Gesicht stoisch und nicht zu deuten. Dentman ging von mir weg, außer Atem, wie ein Jäger, nach seinem Fang.

»Was zur Hölle hast du mit mir vor?« Wir sagen solch jämmerliche Sätze in Momenten der Verzweiflung.

Dentman höhnte: »Fuck, Junge. Du bist erbärmlich. Sieh dich nur an.«

»Du kannst mich nicht töten.«

»Stück Scheiße.« Er kniete sich neben mich und packte erneut beide Hände.

Am Rande meines Gesichtsfeldes nahm ich die Reflexion des Mondes auf Metall wahr, ehe etwas klimperte, als wechsle jemand Kleingeld. Als ich aufschaute, stellte ich fest, dass er mich mit Handschellen an den verdammten Eisenzaun gekettet hatte. »Du kannst mich nicht hier draußen lassen. Ich werde erfrieren.«

Davids breite Schultern bebten mit jedem Atemzug. Wie bei einem wutschnaubenden Stier traten aus seiner Nase Dampfschwaden aus. Dann spuckte er auf mich, drehte sich um und ging gemächlich davon.

Ich hörte das Knirschen seiner schweren Stiefel im Schnee. Mein Kopf schwirrte immer noch, aber ich setzte mich aufrecht hin und schaute Dentman nach. Als er außer Sichtweite zwischen den Bäumen im Finstern verschwunden war, hatte ich schon fast vergessen, wie er aussah.

Ich glaube, ich werde ohnmächtig, dachte ich. Ich glaube, ich werde –

Dunkelheit.