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»Das allein bedeutet noch nicht, dass er unschuldig ist.«

»Es gibt weder eine Leiche noch andere Hinweise, die auf Mord schließen lassen. Damit will ich sagen, dass wir keinen stichhaltigen Grund für eine Festnahme hatten.«

Ich fasste neuen Mut und beugte mich auf dem Stuhl nach vorn. »Also glauben Sie, dass er den Jungen getötet hat?«

Strohman stellte seinen Kaffee auf dem Schreibtisch ab und legte die Hände in den Schoß. »Ich bin sieben Jahre lang in Los Angeles auf Streife gegangen und habe zwei weitere im Morddezernat gearbeitet. Ich liebe diese kleine Stadt – es ist hübsch und friedvoll hier, ich habe eine Frau und Kinder, die in L.A. weit schlechter aufgehoben wären – und bin mir ihrer Mängel bewusst. In den vier Jahren, seit ich hier bin, gab es nur zwei Fälle von unvorhergesehenen Todesfällen, von denen nur einer tatsächlich Mord war: Drüben im Bird kam es zu einem Streit. Fäuste flogen, bis jemand ein Messer zückte. In dieser Gegend sorgt so etwas für reichlich Trubel. Die meisten meiner Officers haben noch nie Blut gesehen, geschweige denn Mordermittlungen durchgeführt.«

Dieses Promi-Vorzeigelächeln kehrte wieder. Er hatte perfekte Zähne. »Ich hingegen habe schon einige unappetitliche Fälle bearbeitet. Ich könnte Ihnen Dinge erzählen … Sie würden die ganze Nacht kein Auge zumachen, weil Sie zwanghaft auf die leisesten Geräusche im Haus horchen müssten. Wenn es zu solcherlei Dingen kommt, naja, das ist mein täglich Brot. Und nur weil ich mit meiner Familie hierhergezogen bin, um ein ruhigeres Leben zu führen, bedeutet das noch lange nicht, dass ich gleich alles vergesse, was ich in der Ausbildung gelernt habe, ganz zu schweigen von meiner Intuition. Diese Fähigkeiten legt man nicht einfach ab wie an der Sicherheitskontrolle auf dem Flughafen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Was ist mit dem Umstand, dass der Leichnam des Jungen nicht gefunden wurde?«

»Ich rechne damit, dass er irgendwann im Frühjahr auftaucht, wenn der See taut. Mein Punkt ist: Ich sitze nicht hier herum, mit dem Daumen im Arsch. Ich weiß, wie man eine Untersuchung durchführt. Ich brauche niemanden wie Sie, der in meiner Scheiße schnüffelt. Comprende?«

Strohman erhob sich vom Schreibtisch und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Beim Setzen quietschen die Rollen darunter. »Also sagen Sie mir, wie kann ich Sie beruhigen?«

»Abgesehen davon, den Fall wieder aufzurollen, nehme ich an?«

»Das ist eine gute Stadt. Den Leuten ist besser geholfen, einen Unfalltod in Vergessenheit geraten zu lassen, als sie in den Mittelpunkt von Mordermittlungen zu stellen, die ohnehin im Sande verlaufen.«

»Das ist Bullshit.«

»Ich bin nachsichtig mit Ihnen, weil Ihr Bruder ein guter Cop und ein guter Mann ist. Ginge es um jemand anderen, käme Dentman sofort mit seiner Anzeige durch. Lassen Sie sich das durch den Kopf gehen.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Officer Cordova wird Sie jetzt nach Hause fahren.«

Kapitel 28

Nachdem wir in die Sackgasse eingebogen waren, brachte Cordova den Streifenwagen mit einer engen Drehung zum Stehen. Freers machte eine abfällige Bemerkung über das Haus der Dentmans; offenbar war ihm entgangen, dass ich jetzt hier wohnte.

Cordova stieg aus und öffnete mir die Tür. Als ich draußen stand, streckte ich meine Beine. Mein Kopf schmerzte immer noch. »Sie haben sich am Tag, als der junge Dentman ertrank, mit Nancy Stein unterhalten, oder?«, fragte ich ihn.

»Was?« Das hatte er wohl am allerwenigsten erwartet.

Ich schüttelte den Kopf. »Ist egal.« Als ich hinüber zum Haus schaute, sah ich Adam vor der Eingangstür stehen.

»Was zum …«

»Yeah, Sie sollten nicht alles so ernst nehmen«, bemerkte Cordova beim Wiedereinsteigen. »Und lassen Sie jemanden Ihren Kopf anschauen.«

Für einen kurzen Moment, dachte ich nicht an die Beule an meiner Schläfe und glaubte, er rate mir zu einem Psychotherapeuten.

Ich ging den Schotterweg zum Haus und hörte den Streifenwagen Richtung Hauptstraße davonfahren, während mein Bruder mit seinem eindrucksvollen Erscheinungsbild auf der Terrasse nichts Gutes verhieß. Trotz der Kälte war mir so heiß, dass mein Shirt an der Brust klebte und Schweiß von meinen Achselhöhlen meinen Brustkorb hinunterlief. Meine Fingernägel hinterließen sichelförmige Einkerbungen auf der Deckklappe meines Notizbuches. Die Realität verschwamm. Hier herrscht Klarheit. Mir war, als würde mein Dasein gleich enden.

Adam stand wie ein Wachposten vor der Tür. Er trug Jeans und einen weißen Pullover mit einem Stern auf der Brust, vor der er die muskulösen Arme verschränkt hatte. Sein Gesicht war das eines frustrierten Elternteils.

Ich hatte längst alle Hoffnung aufgegeben, also konnte ich lachen, als ich am Fuße der Stufen stand. Lustig war natürlich überhaupt nichts an dieser Situation, wirklich in keinerlei Hinsicht, aber ich hatte die Kontrolle verloren, und übrig blieb schlicht ein krankes, humorloses Glucksen.

»Geh ins Haus«, befahl Adam, drehte sich um und trat vor mir ein.

Beth saß mit Jodie auf der Wohnzimmercouch. Als ich hineinkam, erhob sie sich. Sie sah nicht nur ein wenig beunruhigt aus, sondern richtig fertig, krebskrank, magersüchtig. Jodie schaute mich mit dunklen Augen an. Ein neuerlicher Lachanfall bahnte sich an. Diesmal gelang es mir, ihn zurückzuhalten, um die Situation nicht noch schlimmer zu machen.

»Travis«, begann Beth, »was zur Hölle ist mit dir passiert?«

»Lange Geschichte, aber ich bin okay. Ich muss nur mit Adam sprechen.«

»Verdammt richtig«, stimmte er hinter mir zu. Auch seiner Stimme haftete etwas Eigentümliches an. Er versetzte mir einen Stoß, welcher mich näher an meine Frau heranbrachte.

»Alles klar bei dir, Babe?«, fragte ich.

»Dein Kopf«, sagte Jodie nur. Auf dem Couchtisch vor ihr waren die Holzklötze zu einer Stufenpyramide aufgetürmt.

»Alles bestens, ist nur eine Beule.« Ich spürte, dass Adam und Beth wortlos miteinander kommunizierten.

Beth rieb eine meiner Schultern, dann nahm sie Jodies Hände. »Wir machen Kaffee und belegte Sandwiches«, erklärte sie, ehe sie meine Frau von der Couch aus dem Zimmer führte.

Ich blieb, wo ich war, freute mich aber nicht darüber, Adam entgegenzutreten.

Im Bauch des Hauses sprang die Heizung an.

Adam stand immer noch hinter mir, als er begann: »Bisher weiß ich nur, dass du gestern Abend nicht nach Hause gekommen bist, und dass Doug dich gegen Morgen grün und blau geschlagen auf dem Friedhof außerhalb der Stadt gefunden hat. Willst du das näher ausführen?«

»Gut zu wissen, dass du dich so um meine Gesundheit sorgst. Ich lebe noch, falls es dich interessiert.«

»Ja, das sehe ich. Drehst du dich jetzt endlich verdammt noch mal um?«

Ich tat es.

»Ich dachte eigentlich, dass ich dich ein wenig zur Besinnung gebracht habe.«

»Nein. Du hast mir nicht zugehört. Ich habe versucht es dir zu erklären.« Ich war erschöpft. Ging es nach mir, so gab es keine Schlacht mehr, die ich schlagen konnte. Meine Stimme dröhnte wie durch einen Lautsprecher in der High School.

»Du hast nichts außer an den Haaren herbeigezogenen Bullshit aufgetischt. Ich sagte dir, was du am besten tun solltest, aber du wolltest nicht hören.«

»Doch«, widersprach ich. »Ich habe sehr wohl zugehört. David Dentman fing mich in seinem Wagen ab, als ich euer Haus verließ.«