»Und ich schätze, er war es, der dein Gesicht zu Matsch verwandelt hat, richtig?«
»Mehr oder weniger.«
»Kein Wunder. Ich hab dich gewarnt, diese Leute in Ruhe zu lassen.«
»Aber wer kann schon vorhersagen, wie sich ein wahnsinniger Mörder verhält?«
Adams Nasenflügel flatterten. Er nahm die Arme von der Brust und stemmte die Hände in die Hüften. Seine Wangen waren gerötet und ich sah seine Sehnen am Hals hervortreten. Ich wusste, dass er mich gern geschlagen hätte. »Das«, fuhr er fort, »ist dein Fehler. Niemand sonst ist dafür verantwortlich. Du konntest es einfach nicht lassen. Ich habe dich gewarnt.«
»Du siehst es nicht. Wie kann es sein, dass ich der Einzige bin, der es begreift? Das alles kommt mir vor wie the fucking Twilight Zone.«
»Es gibt nichts zu begreifen.«
»Da gibt es genügend zu begreifen.«
»Nein, du interpretierst dir zu viel zusammen. Es spielt sich alles in deinem Kopf ab. Du gaukelst dir gottverdammt nur etwas vor und glaubst fest daran. Der Junge ist ertrunken. Es war ein Unfall. Bekomm das in deinen Schädel.«
Weißglut packte mich. Detective Wrens Gesicht erschien auf einmal wie der Vollmond vor meinem, eine Hand auf meiner Schulter und er fragte mich zum tausendsten Mal, was mit meinem Bruder geschehen sei.
»Du liegst falsch und bist verblendet«, grollte ich.
»Gottverdammt. Du hast doch den Verstand verloren, kannst Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten.«
»Die Wirklichkeit sieht so aus«, antwortete ich im bemessenen Ton, »dass David Dentman seinen Neffen umgebracht hat, doch niemand will es wahrhaben.«
»Dann beweis es.« Adam schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Wenn du dir so verdammt sicher bist, will ich einen verdammten Beweis sehen.«
»Sein Charakter beweist genug; das lausige Notizbuch deutet darauf hin.« Ich warf es durch die Luft. »Das Haus deutet darauf hin, die Gesamtheit all der Geschichten, die –« Mein Blick blieb auf dem Couchtisch hängen mit den Holzklötzen aus meiner Kindheit beziehungsweise denen von Elijah, die immer noch eine bunte Miniaturtreppe bildeten. Ein gequältes Lachen brach aus meiner Kehle hervor. »Der Beweis steckt in diesen Klötzen, siehst du? Der Beweis steckt in der Treppe!«
Um mich herum schien die Welt zu gefrieren. Eine Schleuse tat sich im Zentrum meines Hirns auf und durchflutete es mit gleißend weißem Licht. Ich bemerkte nur vage, wie Beth und Jodie im Flur auftauchten.
»Der perfekte Ort«, murmelte ich, als ich mich zu ihnen umdrehte.
»Travis«, sagte Adam.
»So einfach. Es ist der perfekte Ort, weil es mich schon seit dem ersten Tag anstarrt.«
»Er hat den Verstand verloren«, sprach Adam.
»Oh«, stöhnte Jodie und fing zu weinen an. »Oh Gott …«
»Du willst eine Leiche?«, schrie ich ihn an. »Du willst den Beweis?«
Wie eine Dampflok preschte ich an Adam vorbei und riss die Haustür weit auf. Jodie kreischte meinen Namen, doch ich stoppte nicht, hielt nicht einmal vorübergehend inne. Ich war nicht anwesend, sondern schwebte irgendwo oberhalb und betrachtete mich selbst wie im Traum. Ich war eine Steinlawine im freien Fall, die immer schneller wurde, eine Boeing 747 mit völlig ausgebrannter Maschine, die mit rasender Geschwindigkeit gen Erde stürzte. Hektisch wieselte ich zur Seite des Hauses, setzte zu einem Sprint an, als ich den Garten erreichte. Die Baumstämme vor mir standen wie Zaunpfähle da, eine letzte Barriere zum See.
»Travis!«, hörte ich Adam hinter mir.
Ich hastete weiter die leichte Böschung hinab durch den Schnee auf das Wasser zu, nicht ohne einen Bogen zu dem Hackklotz zu machen, in dem meine Axt steckte. Beidhändig packte ich den Griff und zerrte mit aller Kraft daran. Das Gerät lockerte sich und kam frei, wobei ich fast nach hinten gestürzt wäre.
Im Augenwinkel sah ich, dass Adam mir auf den Fersen war, dicht gefolgt von Beth. Nur Jodie – meine Jodie, mein Mädchen – blieb neben dem Haus stehen und sah dem Treiben zu.
Mit der Axt in der Hand schlug ich mich durch den Wald, wobei ich Äste aus dem Weg schob oder sie abhackte, wenn es sich anbot. Irgendwo, nahe bei mir flatterte eine Schar Amseln auf, die ich erschreckt hatte. Ich lief nicht mehr, weshalb Adam aufholte, ich hörte die Zweige unter ihm knacken. Er rief immer wieder meinen Namen.
Ausgelaugt, aber weiter angetrieben, brach ich durch die letzten vom Winter gebeutelten Bäume. Jeder Atemzug schmerzte in der Brust, doch vor mir lag er nun: der See. Und direkt vor meinen Augen: die Treppe im See. Im Gegensatz zu meinem ersten Besuch gab es nun kein Eis mehr, auf das ich steigen konnte. Ich fand kaum Zeit, mir dessen bewusst zu werden und trat geradewegs ins Wasser. Der Uferschlamm war mit Schilf gespickt, doch mein Fuß sank rasch ein. Das Nass fühlte sich an wie ein Eisbad. Die Kälte stieg wie eine Rakete in mir auf und explodierte mitten im Schädel. Besessen, wie ich war, wollte ich nicht aufgeben.
»Travis«, schrie Adam. Das Knacken maroder Zweige wurde lauter; immer näher …
Ich watete hinein. Bald stand ich bis zu den Hüften im See. Mein ganzer Leib schlotterte, schien auseinanderzufallen, wie ich es von Dentmans Pick-up erwartet hatte, als er über sechzig Meilen die Stunde gefahren war. Wie aus dem Nichts nahm das Gewicht der Axt einen gefühlten Zentner zu, weshalb ich sie mit beiden Händen festhalten musste. Dann reichte mir das Wasser bis zur Brust und ich wuchtete sie über meine Schulter. Meine Zähne klapperten wie eine Horde Stepptänzer. Ich spürte meine Hoden schrumpfen und sich in den Unterbauch zurückziehen. Mittlerweile machte ich keine Schritte mehr, sondern schob die Füße am schlammigen Boden des Sees entlang. Wie tief wurde es noch? Ich hatte keine Ahnung, und es war mir auch gleich. Genauso gut hätte ich in diesem Moment am Grunde des Meeres waten können.
Adam erreichte den Waldrand und taumelte auf den See zu. Mein Name hallte wieder und wieder durch die Nacht. Nun konnte ich auch Beth hören.
Da ich mich nicht umschaute, wusste ich nicht, ob sie mir in die Kälte folgten. Ich erwartete es nicht. Egal wie, es war unerheblich. Die Treppe, dieses urzeitlich wirkende Konstrukt, ragte nur wenige Meter vor mir aus dem Wasser.
Hinter mir platschte es, ich drehte mich um und sah Adam durch das Wasser stampfen.
Die Stufen begannen bereits unter Wasser, also nahm ich den Aufstieg mit der Axt auf der Schulter in Angriff. Die Bretter waren verwittert, rissig und unansehnlich, muteten fragil wie morsche Knochen an. Auf ihnen enthob ich mich der eisigen Fluten. Der Wind blies unerbittlich. Das Wasser hatte ihn bislang abgehalten. Nun, da mein Fleisch ihm derart ungeschützt entgegentrat, wurde es sofort taub. Still, zählte ich die Stufen. Ich fasste die Spitze ins Auge.
Etwas knallte von unten gegen das Gebilde. Etwas im Wasser. Versenkt. Gefangen, dachte ich. Gefangen. Ich spürte meinen Körper nicht mehr, als ich auf der vorletzten Stufe stand. Die Planke der obersten war zersplittert und nicht richtig vernagelt. Sie sah aus als wäre sie in der Vergangenheit einmal herausgebrochen worden.
Ich holte mit der Axt über dem Kopf aus. Irgendwo – von überall – rief Adam. Nur beiläufig bekam ich mit, wie meine Blase nachgab. Die Wärme wanderte vom Schritt innen an den Oberschenkeln hinunter.
Die Axt sauste nieder. Die Planke erhielt eine fatale Wunde. Das stumpfe Eisen krachte ins sonnengebleichte Holz und teilte das Brett glatt in zwei Teile. Die Nägel hielten die beiden Hälften jeweils an den Seiten fest, sodass eine Scharte in der Mitte klaffte. Ich ging auf die Knie und zog die Teile einhändig mitsamt den Nägeln heraus. Da meine Finger gefühllos blieben, war es schwierig, ihnen meinen Willen zur Bewegung aufzuzwingen, zumal die eine Hand wieder zu bluten begonnen hatte. Es tropfte überallhin.