Выбрать главу

»Travis!«

Als ich die beiden Planken von der Stufe gerissen hatte, warf ich sie an der Treppenseite hinunter ins Wasser – klatsch, klatsch – und schaute in das entstandene Loch. Darin stieß ich auf mein Spiegelbild. Es starrte mich aus einem Rechteck schwarzen Wassers an.

Wirf einen Anker aus.

Ich hielt den Griff fest umschlossen, beugte mich über die Öffnung und rammte den Kopf der Axt ins Wasser. Ich wollte die ganze gottverdammte Treppe falls nötig auseinandernehmen, mit bloßen Händen, meinen gefrorenen Fingern, meinen blutigen Flächen, einfach um ihn zu retten, um meinen –

Das Blatt traf auf einen Widerstand, wobei irgendetwas voneinander getrennt wurde.

Was auch immer es war: Es schabte beim Auftauchen am Griff. Ich starrte verbissen in die brackige Brühe, auf dass es endlich auftauchte. Und wartete.

Als es so weit war, ragte es mitten in den Resten der Stufe heraus und trieb innerhalb des Rechteckes an der schwarzen Oberfläche.

Es trieb.

Meine Hände erschlafften, die Axt rutschte ins Wasser. Ich konnte meine Augen nicht von diesem Ding im Wasser abwenden. Ein gebrochener Mann war ich, benommen und unterkühlt, verloren im Taumel meiner Paranoia. Ich starrte es an, und niemand konnte es mir nehmen oder leugnen, was es war …

Ein Torso.

Teil vier.

In die Tiefe 

Kapitel 29

Da sind Lichtfäden, die wie Saphire glimmen. Geruhsam vollziehe ich nach, wie die zwölf Finger meiner Hand Schlieren in den Äther zeichnen. Der Ort, an dem ich mich befinde, liegt fernab der bewussten Wahrnehmung. Ich sitze in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, am Küchentisch und schaue meiner Mutter beim Zubereiten von Geflügel mit Erbsen und Knoblauch zu. Dabei summt sie leise vor sich hin und merkt gar nicht, dass ich sie beobachte, denn ich bin ein Geist, ein Schemen oder Schatten. Willentlich begab ich mich auf die andere Seite, tauschte mein heutiges Ich gegen ein früheres ein und beanspruchte einen Platz an der Tafel der ewig Abkömmlichen, auf immer Verdammten.

Getrappel auf dem Holzboden, ein Flüstern wie herabsinkende Spinnweben. Was ist das Entsetzlichste, das du je getan hast?

Ich trotte auf einem Wüstenhighway voran. Über dem kochenden Asphalt wabert die Luft, und bei jedem Schritt bleibt Teer wie geschmolzene Kamellen an meinen Sohlen kleben. Der Blick zum Horizont schmerzt. Wirre Büschel von Unkraut scheinen mitten aus der Fahrbahn zu sprießen, doch beim Näherkommen stelle ich fest, dass es sich in Wirklichkeit um Haare handelt. Menschen liegen unter dem heißen Straßenbelag, und nur ihre Schädeldecken treten wie Rücken von Buckelwalen hervor. Ich kann sie beim Schopf packen und an den sonnenwarmen, spröden Strähnen ziehen. Einem Loslassen, der Kapitulation kommt es gleich, als der klebrige Asphalt aufweicht und die eingesunkenen Leichname aus ihrer Gefangenschaft entlässt. Der Teer schlägt gurgelnd Blasen, stinkt ätzend nach Methan.

Wie sich herausstellt, fehlt jeweils der Rest des Körpers unterm Skalp von den Augenbrauen abwärts. Jedes Mal, wenn die Straße einen freigibt, stolpere ich rückwärts, weil ich zu kräftig ziehe, und falle hart auf den Boden.

Irgendwo, sinne ich, gibt es ein unermessliches, rätselhaftes Meer, in dem Menschen gegen das Ertrinken ankämpfen, während das Farbenspiel auf dem Wasser sie wahnsinnig macht.

Ich wandere auf dem Wüstenhighway und pflücke Kopfhäute vom Boden wie ein Nomade, als seien sie Trophäen.

Gegen Ende der Woche wütete das Fieber seinem Ende entgegen.

Jodie machte gerade den Küchenherd sauber. Sie wirkte überrascht, als ich im Türbogen stand. »Ich wollte dir gerade Suppe kochen.«

Ich trat zu ihr hin, nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Bald darauf war mein Hals feucht von ihren stummen Tränen.

Dienstags kamen zwei Männer in marineblauen Overalls mit einem Lastwagen, an dessen Seite in grell orangefarbenen Buchstaben von gut einem Fuß Höhe Allegheny Umzugshilfe & Häuserräumung prangte.

»Was ist das?«, fragte der dickere der beiden. »Eine Art Geheimgang?«

Ich schaute zu, wie sie Elijah Dentmans Sachen heraustrugen, sein Bücherregal, den Schreibtisch, die Spielzeugtruhe und das Bettchen. Mit einigen Kisten half ich ihnen. Während ich sie auf die Ladefläche schob und sich das Zimmer im Keller zusehends leerte, stellte sich Erleichterung ein.

»Wohnt Ihr Kind hier unten?«, wollte der andere Möbelpacker wissen. Weil ich ihm nicht antwortete, vermutete er bestimmt das Schlimmste, den Rest der Stunde arbeiteten sie in aller Stille weiter.

Nachdem sie aufgebrochen waren, schaute ich eine Weile in den leeren Raum. Es kam mir vor als blicke ich in meinen Sarg. Als Jodie neben mir auftauchte, fragte ich mich, ob sie genauso empfand – oder sah sie ebenfalls meinen Sarg? Sie streichelte meinen Rücken und reichte mir mit der anderen Hand einen heißen Tee, ehe sie meine Stirn befühlte, um sich zu vergewissern, dass das Fieber nicht wieder schlimmer geworden war. War es nicht.

Während sie das Loch gern versiegelt hätte, kam mir eine bessere Lösung. Ich riss die Wände, diese schmucklosen Gipsplatten, allesamt ein. Vor allem wegen derjenigen mit dem graugrünen Handabdruck war ich besonders froh darüber. Am Ende war ich völlig in weißen Staub gehüllt. Jodie lachte und behauptete, ich sähe aus wie ein Pantomime.

Über das, was passiert war, nachdem mich die Cops an jenem Tag zu Hause abgesetzt hatten, redeten wir nicht. Zwei Wochen war es mittlerweile her. Das Bild ihres Ehemannes, der die Treppe mit der Axt kurz und klein schlug, hatte sich gewiss für lange, lange Zeit ins Gedächtnis meiner Frau eingebrannt, doch sie schaffte es alles hinter sich zu lassen, und liebte mich wieder. Es war eine fürchterliche Erfahrung, die notwendig gewesen war. Die Offenbarung jenes Tages hatte mich zurück auf den Boden der Tatsachen geholt, und genau dies hatte ich gebraucht. Ich brauchte Gewissheit, ob ich recht oder unrecht hatte.

Ich hatte unrecht.

Nachdem ich den Kellerraum gesäubert hatte, nahm ich meine Notizbücher – diejenigen mit dem unvollendeten Fragment von Elijah Dentmans mutmaßlichem Schicksal – und verstaute sie in einem meiner Koffer. Ich hab es versucht, Kleiner, beteuerte ich. So sehr, dass ich einer Sache hinterherhetzte, die gar nicht da war. Und in diesem Moment wusste ich nicht genau, ob ich mit Elijah oder meinem toten Bruder Kyle redete.

Ja, es war ein Brustkorb gewesen. Und ich hatte ihn fasziniert angestarrt, völlig verblüfft ob meiner Vorahnung, dass ich richtig lag; ich lag richtig; ich lag richtig, meine Arbeit war getan, und meine Schreibarbeit war getan, und der Junge gerettet. Ich hatte ihn gerettet. Ich hatte es geschafft, ihn gefunden, ihn gesühnt.

Adam war aus dem Wasser auf die Treppe geklettert und hatte dabei zweimal fast das Gleichgewicht verloren. Als er mich erreichte, schlang er die Arme um mich und drückte meinen Körper an sich. Dabei merkte ich, wie schwer er Luft holte, und sein Atemhauch wirkte heiß an meinem halb erfrorenen Hals.

»Sieh hin«, verlangte ich, ohne mir die Mühe zu machen, mit dem Finger nach unten zu zeigen.

Adam hatte bereits hingeschaut und schwieg. Lange Zeit ließ er auf sich warten, dann sagte er endlich: »Es … es sieht aus wie … ist es …?«

»Ja«, bestätigte ich.

Er flüsterte mir leise ins Ohr: »Woher wusstest du es?«

»Keine Ahnung«, gab ich zu. »Ich kam einfach darauf. Gerade eben.«

»Aber wie?«

Ich drehte ihm den Kopf zu. Sein Gesicht befand sich nun dicht vor meinem »Ein Geist. Ich glaube, ein Geist hat es mir gesagt.«