Fünf Minuten später – genau zur richtigen Zeit – ging die Tür der Kneipe mit einem Knall auf, und David Dentmans breitschultriger Umriss baute sich im Rahmen vor dem stürmischen, eisern blaugrauen Himmel draußen ab. Als er sich in den Raum schob, tropfte Regenwasser auf den Boden, und der dicke Cordmantel, den er trug, ließ seinen bulligen Körper noch imposanter erscheinen. Er schlug die Tür hinter sich zu, doch abgesehen von meinem Bruder und mir schenkte ihm niemand Beachtung.
Adam sagte zuerst nichts, schaute mich nicht einmal an. Allerdings wartete ich auch gar nicht darauf, weil ich zu sehr auf Dentman fixiert war.
Als er mich von der gegenüberliegenden Wand aus sah, kam es mir vor, als stünde ich im Kegel eines Suchscheinwerfers auf einem Gefängnishof. Sein Gesichtsausdruck war der gleiche wie an dem Tag, als er nach Hause kam und bei seiner Schwester auf mich gestoßen war; er sah aus wie ein Topf auf dem Herd, der allmählich zu köcheln anfing.
»Travis«, sagte Adam, allerdings leise. Er schaute immer noch über seine Schulter.
»Er wird sich mit mir prügeln wollen«, entgegnete ich rasch, bevor Dentman unseren Tisch erreichte.
Vor dem unbesetzten Stuhl blieb er stehen. Falls er meinen Bruder erkannte und dessen war ich mir ziemlich sicher, ließ er es sich nicht anmerken. Sein finsterer Blick galt allein mir, dabei zerknüllte er einen gefalteten Zettel in der Faust.
Den musste ich mir nicht genauer betrachten: Mir war klar, dass es sich um den Brief handelte, den ich an meinem Word-Computer ausgedruckt und danach in einen einfach weißen Geschäftsumschlag gesteckt hatte. Am Abend zuvor war ich zum Haus der Dentmans nach West Cumberland gefahren und hatte das Schreiben durch den Briefschlitz in der Tür geschoben, geklopft und mich schnell zurück in den Wagen verkrochen, um rückwärts vom Gelände zu fahren. Bis zu diesem Moment hatte ich stark bezweifelt, dass Dentman auftauchen würde. Wegen dem, was ich in diesem Brief geschrieben hatte …
»Was soll das?« Seine Frage schien tief aus der Brust heraus zu kommen. Ich würde sagen, dass seine Stimmung die meines Bruders widerspiegelte, der schwieg.
»Hinsetzen«, sagte ich zu Dentman.
»Travis.« Adam hatte seine Stimme wiedergefunden, wenn auch nur halb.
Dentman zog den freien Stuhl heraus und ließ sich langsam darauf nieder. Er behielt beide Hände unterm Tisch, und ein verschwommener Gedanke durchkreuzte mein Hirn: Hatte er eine Waffe dabei? Ich war ziemlich sicher, dass Adam seine mit sich führte, auch außer Dienst, weil er dies gewohnheitsmäßig tat – aber würde er schnell genug reagieren können, falls Dentman versuchte, mir eine Kugel in den Kopf zu jagen?
»Was wird hier gespielt, Travis?«, wollte Adam wissen.
Dentman musterte ihn. Er hatte sicherlich angenommen, mein Bruder wisse Bescheid, und wir seien zu zweit gekommen, um im Vorteil zu sein. Aber das war nicht der Fall.
»Es dreht sich hierum«, erklärte ich beiden, indem ich den käsegelben Umschlag auf den Tisch legte. »Das habe ich gefunden.« Ich wandte mich Adam zu. »Du kannst damit tun, was du willst; ich bin ab heute aus allem raus.« Im Gedanken an meine Ehe fügte ich hinzu: »Ich muss.«
»Es war also ein Fehler, keine Anzeige gegen dich zu erstatten«, sagte Dentman. Sein Gesicht rot vor Wut.
Ich schob Adam den Umschlag zu und versuchte ruhig weiterzusprechen. »Du hast mich letzten Monat auf etwas gebracht: Kein Mord geschieht ohne Motiv, und wer unschuldig ist, hat ein Alibi. Man kann niemanden hinter Gitter bringen, solange die Faktenlage dagegenspricht.«
»Travis …« Adam klang so verzweifelt, dass ich ein flaues Gefühl im Bauch bekam. Mit der sachlichen Wahrnehmung eines Hellsehers wusste ich, dass ich sein Herz brach.
»Mach ihn auf«, verlangte ich.
Er nahm den Umschlag, öffnete ihn aber nicht gleich.
Dentman rutschte auf dem Stuhl herum, ich dachte, er würde gleich aufstehen und schnurstracks die Bar verlassen. Aber er blieb sitzen, und ich konnte seinen Zorn beinahe sehen, wie die Hitzewellen von seinem Kopf ausströmten.
»Mach schon«, drängte ich Adam.
Adam schob den Daumen unter das Klebeband und riss die Lasche auf. Auf den Tisch rutschte ein Stoß Papiere, die eine Büroklammer zusammenhielt. Er zupfte am oberen Blatt und lugte darunter, um den Rest der Ausdrucke ins Auge zu fassen. »Was ist das?«
»Das ist ein Dienstplan, eine Anwesenheitsliste der Baufirma, bei der du arbeitest.« Ich sprach Dentman direkt an. »Dir wird auffallen, dass das Datum auf der ersten Seite das des Tages ist, an dem Elijah angeblich ertrank.« Ich beugte mich über den Tisch und fuhr mit dem Finger die Spalte ab, die ich markiert hatte. »Das sind Dentmans Stunden.«
»Wo hast du das her?«, fragte Adam.
»Egal. Wichtig ist, was da steht.«
»Ich muss nicht hier sitzen und mir das anhören«, stellte Dentman klar, machte aber keine Anstalten, aufzustehen.
»Du kannst nicht zu Hause gewesen sein, als dein Neffe verschwand, weil du gearbeitet hast. Um Viertel nach sechs hast du ausgestempelt, und der Firmenjob, befand sich dreißig Meilen weit weg, also hättest du bestenfalls um halb sieben zu Hause sein können, und das auch nur, wenn du zu schnell gefahren wärst. Ich schätze, es wurde wohl Viertel vor sieben, was erklären würde, weshalb du die Polizei erst so spät eingeschaltet hast.«
»Das ist Bullshit«, stieß Dentman zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Bullshit ist nur deine Aussage gegenüber der Polizei.«
Ich nahm die Artikel aus der Tasche, die ich in der Bibliothek gestohlen hatte, und legte sie aufgefaltet auf den Tisch. »Nancy Stein will gegen halb sechs einen Schrei oder was auch immer gehört haben.«
»Als der Junge die Treppe hinunterfiel«, ergänzte Adam beim Durchsehen der Dokumente.
»Ich glaube nicht, dass er von ihm herrührte«, wandte ich ein, »sondern in Wirklichkeit von Veronica, die unten am Ufer war.«
Dentman stand auf. »Du Hurensohn.«
»Du hast selbst betont, in der Nacht auf dem Friedhof, dich für niemanden verantwortlich zu fühlen, außer für deine Schwester. Du lässt nicht zu, dass ihr etwas geschieht, und deshalb hast du die Polizei damals belogen. Du hast sie gedeckt.«
Dentmans Brust hob und senkte sich, hob und senkte sich … Obwohl er gegenüber am Tisch stand, erreichte mich sein heißer Atem. »Du weißt gar nichts.«
Ich richtete mich an meinen Bruder. »Die Papiere belegen es.«
Ganz langsam senkte Adam die Kopien. Sein Gesicht war blass. Er sagte nichts.
»Ich werde jetzt verdammt noch mal gehen.« Dentman drehte sich um.
»Halt«, rief Adam ihm nach.
Erstaunlicherweise blieb Dentman tatsächlich stehen. Seine Hände zitterten. Sein Profil ähnelte etwas am Bug eines Piratenschiffes.
»Stimmt das?«, fragte Adam ihn.
»Scheiße. Ich hatte es nicht nötig, herzukommen.«
»Würden Sie bitte wieder Platz nehmen?«
»Ich muss Ihre gottverdammten Fragen nicht beantworten.«
Jetzt stand Adam auf. »Sie müssen mit mir auf das Revier kommen, Mr. Dentman.«
»Ich habe keine Zeit für so etwas.«
»Das war keine Bitte; wir gehen aufs Revier.«
»Ich will, dass er in den Bunker wandert«, erwiderte Dentman mich anstarrend. Seine Augen glichen Schlitzen, die man in roten Stoff – seine Gesichtshaut – geschnitten hatte. »Der Hurensohn soll wegen Belästigung einsitzen.«
Ich raffte die Blätter vom Tisch auf und erhob mich. »Bestens, dann fahren wir alle in die Stadt.«
»Du Scheißkerl!« Dentman stürzte sich auf mich und warf dabei den Tisch um.
Ich sprang zurück, als eine seiner Stahlfäuste wie eine Abrissbirne auf mich niederfuhr; der Wind, den er dabei machte, blies mir glatt das Haar von der Stirn. Ich bereitete mich auf einen zweiten Hieb vor, da Dentman gleich wieder ausholte. Gerade als er zuschlagen wollte, stürzte sich Adam auf ihn und verschränkte ihm eine Hand hinterm Rücken und warf sich mit vollem Gewicht gegen den wuchtigen Mann. Dentmans zweiter Angriff schlug fehl, er ging vorwärts auf die Knie.