»Nur zu.« McMullen nickte zu den Klappstühlen. »Nehmen Sie Platz.«
»Können sie uns hören?«
»Nö«, sagte er, es klang als hätte er Kaugummi im Mund.
Freers Fragen waren obligatorisch – Veronicas voller Name, Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer (die sie nicht wusste), Adresse, Telefonnummer (welche sie nicht hatte), und ihren Beruf (dito Telefonnummer).
»Ist es möglich, David Dentmans Befragung anzuhören?«, fragte ich Rob nach einer Weile.
»Er sitzt im Büro des Chefs.« Damit wollte er mir wohl zu verstehen geben, dass es tabu war, dort zu lauschen.
Freers stand auf und verließ das Zimmer, um kaum eine Minute später mit einem Plastikbecher Wasser zurückzukehren, den er vor Veronica abstellte. Als sie den Kopf senkte, um ihn zu betrachten, fiel ihr das struppige Haar ins Gesicht und einiges davon wie Teebeutel in den Becher.
Das Zahlenschloss klickte und die Metalltür sprang auf. Ein Streif Neonlicht vom Gang zerschnitt die Dunkelheit des Raumes. Zwei oder drei Personen schlurften schweren Atems herein, und mit einem Mal stank es nach schlechten Zähnen und abgestandenem Schweiß. Zwei wuchtige Leiber schoben sich seitlich hinter die Stühle, während der dritte Mann neben McMullen stehen blieb. Die beiden hinter mir fingen zu flüstern an. Ich glaubte, einen Furz auf dem Metall eines Klappstuhls zu hören.
»Wir werden Ihnen Fragen zu dem Tag stellen, an dem Ihr Sohn ertrunken ist«, kündigte Freers Veronica an.
Sie sagte nichts.
»Womit würden Sie gerne beginnen?«, fragte Freers.
Sie schwieg weiter.
»Wir brauchen Ihre Aussage von –«
»Ich habe geschlafen«, gab sie automatisch an. Ihre Stimme klang durch die Lautsprecher, die an beiden Seiten der Spiegelwand angebracht waren, sehr leise.
»Dann fangen wir an dem Punkt an, als sie noch wach waren. Woran erinnern Sie sich zuletzt?«, versuchte es Freers.
»An heftige Kopfschmerzen«, erwiderte sie. »Dann habe ich geschlafen.«
»Verdammt schaurig«, bemerkte einer der Männer hinter mir. »Wie ein Roboter oder so.«
»Besessen«, meinte sein Partner. »Wie in dem Film, wo in der Kleinen der Teufel steckte«
»Der Exorzist?«
»Nein, ich meinte den neuen.«
»Wenn du mich fragst, hat ihr jemand eine Gehirnwäsche verpasst.«
Ich versuchte, ihr Gerede auszublenden, beugte mich nach vorn und konzentrierte mich. Freers versuchte vergeblich, sie mit einer anderen Herangehensweise zum Reden zu bringen.
Der dritte Polizist, der neben McMullen, stand dicht genug vor dem Spiegel, um seinen Atem an der Scheibe zu hinterlassen. »Komm schon, Freers«, murmelte er. »Gib es gleich auf.«
Einer der beiden Paviane hinter mir stimmte die Melodie von Twilight Zone an.
Als hätte sich die Bitte durch die Wand übertragen, legte Freers seinen Stift nieder und ließ sich seufzend auf seinem Stuhl zurücksinken. Eine Reihe trockener Knackgeräusche dröhnte durch die Boxen, die entweder von der Sessellehne oder seinem Rücken herrührten. Den letzten Satz, den er an Veronica richtete, verstand man nicht, da er sich mit seinem fleischigen Daumen über die Unterlippe fuhr. Dann stand er auf, nahm das Notizbuch mit dem Stift und ging aus dem Zimmer.
Allein im farblosen Licht der Verhörzelle sah Veronica aus wie ein Wachsmodell ihrer selbst.
»Strohman wird es versuchen«, ahnte einer der Männer hinter mir. Der Unmut in seiner Stimme war so subtil wie die Explosion einer Kanone.
»Das wird auch nichts bringen«, sagte irgendjemand. »Schau sie dir an. Da bekommt man mehr Antworten von einem Telefonmast.«
»Ich wette, sie weiß überhaupt nicht, was passiert ist.« Das kam von McMullen, der neben der Tür stand und sich ins Getuschel seiner Kollegen einmischte.
Wenige Minuten später langweilten sie sich. Irgendjemand wollte etwas von Kuchen im Aufenthaltsraum wissen, das wirkte wie Feuer unter ihren Hintern.
Ich beobachtete ihre Umrisse, wie sie aus dem Dunkeln hinaus auf den Flur gingen. Vor mir hockte Veronica reglos und allein am Holztisch im Verhörzimmer.
»Was wird mit ihr geschehen?«, fragte ich McMullen, der mit dem Hinausgehen wartete.
»Weiß nicht«, gestand er. »Kommen Sie! Folgen Sie mir.«
Draußen auf dem Gang herrschte reges Treiben. Sehr wahrscheinlich war das Department lange nicht mehr so umtriebig gewesen. Im Getümmel stieß ich gegen Adams Schulter, als er an mir vorbeiging.
»Ich rief Beth an und sagte ihr, sie solle Jodie Bescheid sagen«, bemerkte er, ohne stehen zu bleiben. Er ging neben mir her mit zwei anderen Beamten. »Ich meinte zu ihr, du seist hier, um mir bei etwas zu helfen, und dass du sie später zurückrufen wirst.« Er hielt sich den gespreizten Daumen ans Ohr und den kleinen Finger an den Mund, ehe er in einem anderen Zimmer verschwand.
»Kann ich irgendwo telefonieren?«, fragte ich McMullen, der seinen Mitarbeitern in den Aufenthaltsraum folgte.
»Herrgott!« Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und leckte wie ein Hund den Schweiß von seiner Oberlippe. Er sah wie ein Achtzehnjähriger aus. »Die Büros sind alle belegt.« Dann leuchteten seine Augen auf. »Ach, wir könnten zu Mae gehen.«
Mae war die kleine, gedrungene Frau, die Strohman und mir an dem Tag Kaffee gebracht hatte, als ich vom Friedhof hierher gebracht wurde. Sie saß vor ihrem Computer in einer Mischung aus Abfertigungsstelle und Sekretariat. Eine Reihe Telefone standen auf einer Bank, deren Hörer alle eine mit ehemals roter Flüssigkeit aufgemalte Ziffer trugen.
Rob schwenkte einen Arm über die Geräte, deutete an, jedes davon erweise mir nur zu gern seine Dienste. »Mit der Neun wählen Sie sich nach draußen«, bemerkte er, bevor er verschwand.
»Hey«, grüßte ich, als Jodie zu Hause abhob. »Es wird spät, also dachte ich, ich rufe besser an. Hat Beth mit dir gesprochen?«
»Sie meinte, du seist mit Adam auf dem Revier. Stimmt es, dass man jemanden unter Mordverdacht festgenommen hat?«
»Keine Ahnung. Hier werden ein paar Leute verhört.«
»Womit hilfst du Adam?«
»Na ja, ich gelte wohl gewissermaßen als Zeuge.«
»Geht es um den ertrunkenen Jungen?«
Ich schloss die Augen und sagte: »Ja.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte längeres Schweigen. Ihre Miene wollte ich mir nicht ausmalen. Befürchtete sie, ich würde wieder rückfällig?
»Bist du okay?«, fragte sie schließlich.
»Ja, und du?«
»Mir geht‘s gut, wenn es dir gut geht.«
»Ich bin okay.«
»Wann kommst du heim?«
»Weiß nicht. Ich bin mit Adam hergefahren. Unser Wagen steht noch vorm Mockingbird, also muss ich mich nach Adam richten.«
»Soll ich dich mit Beth abholen?«
»Nein«, antwortete ich. »Bleib ruhig daheim. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es allzu spät wird.«
»Okay. Ich liebe dich.«
»Liebe dich auch.« Und legte auf.
»So nett«, bemerkte Mae und strahlte mich an. Sie hatte Lippenstift an ihren Zähnen. Ihr silbernes Haar hatte sie zu einem Nest am Hinterkopf zusammengebunden. »Ihre Frau?«
»Ja. Darf man hier irgendwo rauchen?«
»Draußen auf der Treppe.«
Am Eingang des Westlake Police Departments, frierend und nass, rauchte ich gleich mehrere Zigaretten, als harre ich meiner Hinrichtung. Windböen ließen die Bäume in der Umgebung wie das Meer rauschen. Der Himmel, ein schwarzes Netz, in dem Sterne hingen.