Kurz vor elf kam Adam durch die Tür und blieb hinter mir stehen. Sein Schatten fiel über mich. Ich saß auf den Betonstufen, zitternd in meinem Parka, und arbeitete mich zur letzten Zigarette vor. Die Parkplatzbeleuchtung tauchte das Pflaster des Gehwegs am Gebäude in unnatürlich orangefarbenes Licht.
»Hast du eine für mich?«
»Du stehst doch nicht auf Menthol«, warnte ich ihn und händigte ihm dennoch die letzte aus.
Er steckte sie an und hustete beim Inhalieren. Dann lehnte er sich ans Geländer und sagte: »Ich habe viel über jenen Sommer nachgedacht.«
Er musste nicht weiter erklären, was er meinte.
»Vielleicht liegt es daran, dass du hergezogen bist, oder weil sich die Ereignisse in letzter Zeit überschlagen. Ich weiß es nicht.«
Er zog fest an der Zigarette. Seinen Kopf umgab eine Aura kalt orangefarbenen Scheins.
»Verdammt«, fluchte Adam, nachdem er die nur halb gerauchte Kippe mit dem Stiefel zertrat. »Lass uns hier verschwinden.«
Auf der Fahrt zurück fragte ich ihn, was als Nächstes geschehen würde.
»Wir werden sie über Nacht festhalten. Der Bezirksstaatsanwalt wird klare Aussagen verlangen, bevor er weitere Schritte einleitet.«
»Wird das klappen?«
»Mit den Aussagen?« Da war eine nicht zu überhörende Resignation in der Stimmlage meines Bruders. »David wird dichthalten, und Veronica ist sowieso von allen guten Geistern verlassen. Selbst wenn sie irgendetwas gesteht, wird es erst wasserdicht, sobald ihr Bruder etwas äußert, das sich mehr oder weniger damit deckt. Weiters müssen wir die Aufzeichnungen der Baufirma einholen, was eine Weile dauern wird.«
»Aber ihr habt sie doch.«
»Sicher, aber wir müssen auf legalem Weg Einsicht erlangen.«
»Hat es irgendwas versaut, weil ich sie dir vorab gegeben habe?«
»Sollte es nicht, selbst wenn uns ein findiger Strafverteidiger einen Strick daraus drehen wollte. Es hat dich niemand von uns genötigt, es zu tun. Uns als Behörde trifft keine Schuld, etwas Unlauteres begangen zu haben. Im Grunde genommen läuft es so, damit wir keine Löcher im Fall haben und alles rechtmäßig ist.«
»Rechnest du wirklich damit, dass die Sache vor Gericht kommt?«
»Ich habe keine Ahnung. Mit so etwas hatte ich noch nie zu tun.«
In meinem Kopf hörte ich Paul Strohmans Stimme, begleitet von einem statischen Rauschen wie über CB-Funk: Die meisten meiner Delegierten haben noch nie Blut gesehen, geschweige denn Mordermittlungen durchgeführt. Im Anschluss daran knarrte als deutliche Mahnung: Ich könnte Ihnen Dinge erzählen … Sie würden die ganze Nacht kein Auge zumachen, weil Sie zwanghaft auf die leisesten Geräusche im Haus horchen müssten.
Während Adam durch die dunklen Straßen fuhr, starrte ich durch das Fenster auf die vorbeihuschenden Bäume dahinter.
»Nehmen wir an, Dentman deckt seine Schwester tatsächlich«, sagte ich mit Blick aus der Beifahrerscheibe. »Wenn sie ihren Sohn ohne sein Wissen und Zutun umgebracht hat: Was blüht ihm dann?«
»Eine Anklage wegen Justizbehinderung oder Falschaussage, Verabredung, Beihilfe und Vorschub. Himmel, ich weiß es nicht.«
»Jesus«, murmelte ich.
»Jetzt erzähl mir nicht, du hättest einen Sinneswandel! Nicht nach allem, was passiert ist.«
»Nein«, beschwichtigte ich. »Ich versuche nur, die ganze Sache zu verdauen.«
Adam verschluckte sich an seinem Lachen. »Willst du mich verarschen? Du allein hattest einen Verdacht. Stell dir bloß vor, wie sich Paul fucking Strohman gerade vorkommen muss.«
»Ich lag aber falsch, es war Veronica, nicht David.« Ich dachte darüber nach; meine Gedanken rasten dahin. »Was meintest du eigentlich damit, David werde dichthalten?«
»Er verweigert die Aussage, wird nicht singen. Niemandem gegenüber hat er ein Wort geäußert, seit wir ihn festgenommen haben.«
Wir, dachte ich. Seit wir ihn festgenommen haben. Das ist so verdammt surreal.
»Würde Strohman die Anklage im Austausch für ein Geständnis fallen lassen?«
Das Licht des Armaturenbretts beleuchtete Adams Gesicht schauderhaft grün. »Das müsste der Staatsanwalt entscheiden, nicht Strohman. Bist du dir überhaupt sicher, dass Dentman dazu bereit wäre? Er log von vornherein für seine Schwester, ich bezweifle stark, dass er sie mit der Aussicht auf Strafmilderung im Stich lässt.«
»Nein, so meinte ich das nicht«, erwiderte ich. »Nicht ganz.«
Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Wie dann?«
»Es ist … nur eine Idee. Besteht irgendeine Chance, dass Strohman beim Staatsanwalt vorfühlt?«
»Ob er sich Dentman gegenüber nachsichtig zeigt, wenn er seine Schwester belastet?«
»Nicht belastet«, verbesserte ich. »Er soll einfach nur aussagen. Ich glaube nicht, dass er irgendetwas zu bekennen hat.«
»So«, antwortete er, nicht ganz ohne brüderliche Herablassung. »Wenn du damit mal nicht von deiner bisherigen Linie abweichst.«
Er drehte am Lenkrad und der Wagen bog in die Hauptstraße ein, die nur von unseren Lichtern erhellt wurde. »Wie auch immer, geht es um Mord, wird der Staatsanwalt darauf pochen, dass jemand in den Knast wandert.«
»Veronica wird es nicht treffen, oder?«
»Du hast sie gesehen und mit ihr gesprochen«, sagte er. »Keine Geschworenenbank der Welt wird diese Frau ins Gefängnis bringen, welch schweres Verbrechen sie auch immer begangen hat. Ganz zu Schweigen von der fehlenden Leiche«, schob er nach, als sei irgendetwas davon meine Schuld. »Angesichts ihrer Vergangenheit wird selbst ein Pflichtverteidiger auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren und damit durchkommen. Die einzigen Gitter, die diese Frau zu sehen kriegt, sind die vor den Fenstern einer Nervenheilanstalt.«
Ich ließ das erst mal sacken.
»Denkst du, wir finden jemals heraus, was Elijah zugestoßen ist?«, fragte ich schließlich, als wir in der Waterview Court einfuhren.
Adam schien sich die Worte durch den Kopf gehen zu lassen. »Kann ich nicht sagen, aber zumindest sind wir der Antwort einen Schritt näher, nicht wahr?«
Die Scheinwerfer durchbrachen die Dunkelheit der Straße. Die Laternen waren nicht eingeschaltet und es war, als würden wir am Grund des tiefsten Ozeans dahingleiten.
»Du hast mir an dem Tag am See einen Scheißschrecken eingejagt«, meinte Adam plötzlich unvermittelt, »als du mit der Axt …«
»Ich erschrak vor mir selbst«, gestand ich und war gleichzeitig überrascht, mich so offen zu zeigen. »Ich musste es einfach wissen.«
»Wie bist du überhaupt darauf gekommen?«
Althea Coulter meldete sich in meinem Gedächtnis: Die Natur kennt kein Aussterben, sondern nur Veränderung. Sie weiß, dass die Seele, wenn sie einen Körper verlässt, dessen Licht ausgegangen ist, laut Definition, irgendwo unterkommen muss. Glaubt man weder an Gott oder ein anderes höheres Wesen noch an Himmel und Hölle – wohin zieht das Ich dann?
»Geister«, sprach ich, als wir am Ende der Sackgasse langsamer wurden und schließlich stehen blieben. »Glaubst du an so etwas?«
Kapitel 32
Jodie saß mit dem Kissen im Rücken auf dem Bett und las unter der Lampe am Kopfende in einem Taschenbuch von Louis L‘Amour. Ich streifte meine Schuhe ab, kroch ins Bett zu ihr hoch, küsste Hals, Kinn und Lippen.
»Spann mich nicht auf die Folter«, sagte sie. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht, wie viel ich dir überhaupt sagen darf.«
»Tu es einfach.«
»Ich glaube, sie haben David und Veronica Dentman unter Arrest gestellt.«
»Weiß man jetzt, was mit dem kleinen Jungen passiert ist?«