»Müssen Sie auch nicht«, entgegnete ich. »Stellen Sie ihm nur Straffreiheit für die Taten in Aussicht, derer er gegenwärtig am Pranger steht, Justizbehinderung oder Beihilfe, egal.«
»Ich denke ungern daran, ihn mit Samthandschuhen anzupacken, während wir seine zurückgebliebene Schwester richtig in die Mangel nehmen.«
»Wollen Sie seine Aussage oder nicht?«, fragte ich. »Und nebenbei ist sie nicht zurückgeblieben.«
Strohman fuhr mit dem Daumen über sein Kinngrübchen. »Falls das brutal klingt, liegt das daran, dass diese Angelegenheit ein stinkender Haufen Scheiße ist, der mir jetzt am Schuh klebt. Und dass Sie Ihre Nase überall reinstecken, macht es nicht besser.«
»Ich giere nicht danach, irgendwem davon zu erzählen.«
»Nun gut. Wahrscheinlich sind Sie einfach nur ein feiner Kerl, was?« Strohman stand auf und reckte sich, ein Meter neunzig und mehr. »Sie gehen zu ihm und hören sich an, was er zu sagen hat. Keine Versprechen – und erzählen Sie ihm nichts, was er nicht sowieso schon weiß und in seiner Aussage preisgibt.«
»Alles klar«, bestätigte ich und erhob mich ebenfalls. »Wo ist er?«
»In einer der Arrestzellen.«
Eingesperrt in einer Einzelzelle sah David Dentman aus wie ein zu groß geratenes Kind, das die Schultern hängen ließ. Als ich eintrat, schloss Adam die Tür hinter mir, doch David machte sich nicht einmal die Mühe, mich anzusehen. Trotz Mittagszeit drang nur fahles Licht durch die vergitterten Fenster hoch oben in der Wand. Der ganze Platz roch nach Mottenkugeln und gebrauchten Socken.
Ich ließ mich auf dem Klappstuhl vor seiner Zelle nieder und sagte nichts.
Dentman hockte auf der Kante seiner Pritsche und scheinbar gefiel es ihm, seine riesigen Füße anzustarren. Man hatte ihm die Schnürsenkel aus den Schuhen gezogen, und seine gefalteten Hände zwischen den Oberschenkeln kamen der Größe von zwei Radkappen gleich. Mir fiel auf, dass der Haarwirbel auf seiner Schädeldecke allmählich einer Glatze wich. Als er mich endlich anschaute, tat er es mit versteinerter Miene, die keine Gefühlsregung durchblicken ließ. Das überraschte mich, denn ich hatte erwartet, dass er weinte.
»Was weißt du sonst noch?« Seine Stimme war kaum lauter als ein Wispern.
Ich streckte die Hände mit den Flächen nach oben aus.
»Nichts.«
»Lüg mich nicht an. Es ist vorbei.«
»Was macht dich so sicher, dass ich mehr weiß?«
»Du hast alles herausgefunden, nicht wahr?«
»Einen Scheiß habe ich. Bin nicht weiter als vorher.«
»Du kotzt mich an.«
»Sag mir, was passiert ist.«
Er ließ den Kopf wieder hängen.
»Sie brauchen eine Aussage von dir.«
»Wieso? Um meine Schwester ins Gefängnis zu stecken?«
»Veronica wird nicht ins Gefängnis kommen, und wenn du dich kooperativ zeigst, du auch nicht.«
»Und was bringt mir das?«
»Dir mag es nicht viel bedeuteten, aber Veronica vielleicht umso mehr. Zeigst du guten Willen, indem du ihnen alles sagst, was an jenem Tag wirklich vorgefallen ist, erhältst du Strafminderung und wirst auch weiterhin für deine Schwester sorgen können. Falls man sie irgendwo in eine Klinik schickt, wird sie dich brauchen. Bei ihr nach dem Rechten sehen und auf sie aufpassen kannst du nicht vom Knast aus.«
David hob den Kopf und starrte mich an. Trotz der Entfernung zwischen uns konnte ich die blonden Härchen seiner Augenbrauen beinahe zählen. »Ich traue der Polizei nicht«, erwiderte er, »also werde ich denen nichts sagen, bis ich genau weiß, dass sie nicht mit falschen Karten spielen.«
»Das tun sie nicht. Sie haben nichts gegen dich in der Hand außer der Tatsache, dass du für deine Schwester gelogen hast.«
»Wo ist sie?«
»Auch irgendwo hier.«
»Was hat sie ihnen gesagt?«
Wir näherten uns gefährlichem Territorium, von dem mir Strohman mitgeteilt hatte, es zu meiden. Ich antwortete ihm trotzdem. »Noch überhaupt nichts.« Scheiß auf Paul Strohman, dachte ich.
»Und das wird sie auch nicht«, sagte er. Erstaunlicherweise glaubte ich, den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Das sich nicht ganz entfaltete, wie auch immer, dafür war ich in gewisser Weise auch dankbar, denn ich befürchtete, ein solches Lächeln würde mich jahrzehntelang in meinen Träumen verfolgen.
»Sag mir, was du weißt«, drängte ich ihn und lehnte mich näher an die Gitterstäbe.
Er schwieg lange. Als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, rechnete ich damit, dass seine Augen feucht vor Tränen würden, aber das trat nicht ein. Er sah mich an, und ich fühlte ein Ziehen, als hätte er mich mit einer Lanze aufgespießt. »Sag dem Chef, ich sei bereit, mit ihm zu reden«, antwortete Dentman und wandte sich ab.
»Komm mit«, bat Adam.
Ich folgte ihm den Flur hinunter in den Protokollraum, den mir McMullen am Vortag gezeigt hatte. Diesmal blieb kein Klappstuhl vor der Spiegelwand frei, es war warm und stank nach schlechtem Atem. Ich blieb an der Mauer neben meinem Bruder stehen. In der Verhörzelle flackerte die Beleuchtung auf.
Als die Tür aufging, klang das durch die Lautsprecher wie der Sound eines Horrorhörspiels im Radio aus den Dreißigern. David Dentman trat in Begleitung zweier Uniformierter ein. Seine Unterarme waren in Handschellen vor dem Bauch verschränkt. Die beiden Beamten, die im Vergleich neben ihm kümmerlich wirkten, lotsten ihn zu dem Stuhl, auf dem jüngst seine Schwester gesessen hatte.
Danach kam Strohman herein und schloss die Tür hinter sich. Er trug das gleiche legere Hemd über entsprechender Hose wie während unseres ersten Treffens und hatte ein Jackett angezogen. Er sah so aus, als hätte man ihn gerade aus einem unruhigen Schlaf geweckt. »Okay, David«, begann er, nachdem er sich auf einem Stuhl gegenüber am Tisch niedergelassen hatte. Er legte einen dicken Ordner auf die Platte, während sich seine zwei Männer an die Wand zurückzogen.
Ich hatte erwartet, das Verhör laufe nach bestimmten Klischees ab, direkt und als schneller Schlagabtausch, wie in etwa in einem Roman von Elmore Leonard, jedoch sah ich mich enttäuscht, da sich Strohman keinen Zwang antat.
Er hing auf dem Stuhl und schien sich einmal mehr zu Tode zu langweilen, so als wohne er ungewollt einem AA-Treffen bei. Beiläufig schlug er den Ordner auf, dann fragte er Dentman, ob er sich seiner Rechte bewusst sei.
»Ja«, murrte Dentman. Selbst leise ließ seine Stimme die Boxen dröhnen.
Einer der Zuseher stand auf und drehte an einem Lautstärkeregler an der Wand.
»Sind Sie zur Aussage bereit?«, fragte Strohman.
»Noch nicht.«
Strohman sah verwirrt aus – eine Miene, die nicht zu ihm passte. »Ach ja?«
»Ich möchte zuerst eines klarstellen«, sprach Dentman weiter.
»Das wäre?«
»Meine Schwester; es geht ihr nicht gut, und zwar nicht erst seit gestern. Ich schätze, das muss ich Ihnen nicht sagen.« Sein Blick wanderte beinahe unmerklich zum Spiegel. Er schien zu wissen, was beziehungsweise wer dahinter steckte und ihn beobachtete. »Trotzdem will ich es noch einmal offiziell zum Ausdruck bringen.«
»Okay.«
»Ich liebe meine Schwester. Nach Elijahs Tod ist nur noch sie von meiner Familie übrig.«
»Verstehe. Fertig jetzt?«
Dentman nickte.
Strohman tastete seine Brusttaschen ab. Ein Arm kam aus dem Schatten und einer der Uniformierten reichte ihm einen Stift. »Erzählen Sie uns, was an dem Tag geschah, als Ihr Neffe verschwand.«
»Ich war bis zum Abend auf der Arbeit. Wann ich nach Hause fuhr, weiß ich nicht mehr, aber die Sonne ging auf jeden Fall schon unter, daran erinnere ich mich genau. Veronica war wie jeden Tag allein mit dem Jungen im Haus. Sie hat sich immer als gute Mutter erwiesen. Selbst dann, wenn sie wieder einmal einen ihrer Momente hatte.«