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»Unsere Mutter starb, als wir noch sehr jung waren, bei einem Autounfall. Ich erinnere mich nicht mehr sonderlich deutlich an sie.« Nüchtern sah er mich an – direkt in mich hinein, möchte ich wetten. »Mein Vater war ein schlechter Mensch.« Er schüttelte langsam seinen massigen Kopf, als versuche er, Erinnerungen loszuwerden. »Wie war deiner so?«

Mein Vater war warmherzig und verständnisvoll, obwohl er seine Launen hatte und gereizt wurde, wenn er trank. Vor Kyles Tod hatte er sich als guter Dad erwiesen – ich hasste mich plötzlich, weil ich unfähig war, mich an etwas anderes zu erinnern außer an jenen Tag, da er mich mit seinem Gürtel grün und blau geschlagen hatte.

»Ein ganz normaler Kerl«, sagte ich.

»Unser Vater«, sprach er, und es klang wie ein auswendig gelerntes Gebet, »war geisteskrank, noch bevor er offiziell für verrückt erklärt wurde. Dieser Irre war in der Lage, seine Kinder, als sie noch klein waren, an Bäume im Wald zu fesseln. Wenn du ein Geschirr zerbrichst, kriechst du in den Splittern. Wenn du den Herd schmutzig hinterlässt, bekommst du die heißen Platten zu spüren. Mit deinen Händen. Lange. So lange, bis du deine Lektion gelernt hast.« Er schob das Kinn vor. »Hast du es auch auf die Tour lernen müssen, als du ein Kind warst?«

»Nein, nicht auf diese Weise.«

»Er zwang mich dazu, Dinge zu tun, die kein Erwachsener – vor allem kein Vater – je von einem Kind verlangen sollte. Veronica tat er weit Schlimmeres an. Dinge, die er mit mir nicht machen konnte.«

Dies rief so bestürzende, brutalste Bilder in meinem Kopf hervor, dass mir speiübel wurde. Wie Gift breitete sich dieses Gefühl vom Magen aus und rauschte durch meine Adern. Was für entsetzliche Dinge Veronica in diesem Haus widerfahren sein mussten …

»Als ich alt genug war, brach ich aus, kehrte aber für Veronica wieder zurück. Ich durfte nicht zulassen, dass er … dass er weiterhin … Ich musste wiederkommen. Das Zimmer im Keller? Das hinter der Wand? Er hat es für sie gebaut. Sie fürchtete sich davor, doch er sperrte sie jeden Abend dort ein.«

»Mein Gott …«

»Manchmal blieb er dort unten bei ihr«, fügte er hinzu. »Im Dunkeln.«

»Stopp«, hörte ich mich selbst sagen, wie von fern und leidlich überzeugend – wie das Miauen einer Katze, die sich im Wald verirrt hatte.

»Ich kam zurück, um sie mitzunehmen. Wir kehrten ihm gemeinsam den Rücken. Aber zum Teufel mit ihm, sie war ein einziges Wrack.« Dentman klang angewidert, schien aber trotzdem auf seltsame Weise daran gewohnt zu sein, sich derart zu öffnen. »Sie tat sich schwer und verbrachte eine Menge Zeit in Kliniken. Natürlich geriet sie auch an Leute, die nicht verstanden, wie empfindsam sie war. Sie wurde schwanger und bekam Elijah.« Seine Stimme klang befremdlich abweisend und dennoch voller Zuneigung. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, dass er den Jungen wahrscheinlich auf eine verdrehte, schwer zu ergründende Weise geliebt hatte.

David schenkte zwei weitere Bourbons ein und stürzte seinen hinunter, ehe ich überhaupt zum Glas greifen konnte.

»Als sie erfuhr, dass er erkrankt war, meinte sie, wir müssten zurückkehren, denn es sei ihre Pflicht als Tochter, ihm in seinen letzten Tagen beizustehen.« Seine Augen glitzerten wie Edelsteine. So aufmerksam wie ihn hatte ich noch nichts und niemanden im Leben angesehen. »Kannst du dir das vorstellen? Nach allem, was er ihr angetan hat?«

»Warum erzählst du mir das?«

Er schaute auf mein Schnapsglas. Ich hatte die Finger darumgelegt, rückte es aber nicht von der Stelle. »Trink«, gebot er.

»Ich will nicht.«

»Trink, oder ich ramme dir das Glas in den Schädel.«

Es brannte wie Säure meinen Hals hinunter. Das stimulierte meinen Würgereflex und ich glaubte, mich übergeben zu müssen.

»Sieh dich an«, knurrte Dentman befriedigt.

Meine Augen schwammen in Tränen, als ich das Glas auf die Tischplatte knallte.

»Ich hasse dich und trotzdem muss ich dir danken.« Er starrte auf seine Hände. Handflächen nach oben, die Finger leicht gebogen, sahen sie aus wie ein Paar unbekannter Meereswesen, die man aus einem Netz befreit und aufs Deck eines Schiffes geworfen hatte. »Ich hasse dich, weil sie deinetwegen eine Weile von der Bildfläche verschwinden wird. Die Ärzte wollen sichergehen, dass sie stabil bleibt, damit sie okay ist. Du hast sie ziemlich aufgewühlt. Meine kleine Schwester hat ganz schön gelitten wegen dir.«

Unter lautem Lachen wurde die Tür der Kneipe aufgestoßen. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, ob Adam gekommen war. Die beiden Männer, die hereinkamen, kannte ich als Tooeys Stammkunden, aber mein Bruder war nicht unter ihnen. Als ich mich wieder David widmete, hatte er neu eingegossen. »Mann, ich kann nicht mehr …«

»Trink schon. Wir ziehen das durch, oder?«

»Was denn?«

»Trink.«

Mit zittriger Hand kippte ich den Drink. Dann sah ich Dentman doppelt und dreifach, bevor mein Blickfeld an den Rändern ausfranste. Abwesend bekam ich mit, wie er eine seiner geröteten Hände zu einer enormen Faust ballte. Ein Mann wie er war am gefährlichsten, wenn er nichts mehr zu verlieren hatte.

»David«, brachte ich nach zu langem ungemütlichem Schweigen über die Lippen.

»Du bist ein scheißverflucht guter Schriftsteller«, befand er in ruhigem, gleichmäßigem Ton. Mit zwei Fingern fuhr er in die Brusttasche seines Flanellhemdes und zupfte ein gefaltetes Papier heraus. Ich dachte, dass er es aus einer Zeitung gerissen hatte. Als er es jedoch offen auf den Tisch legte, erkannte ich es als Buchseite. »Meine Lieblingsstelle«, bemerkte er.

Er hatte den Text in der Mitte des Blattes unterstrichen – nur eine Zeile, nicht mehr.

Weil er mein Bruder ist, will ich tausend Tode sterben, um seinen zu vergelten.

Ich schob das Papier wortlos zurück.

Dentman nahm es, faltete es sauber zum Quadrat und steckte es zurück in die Brusttasche. »Ich dachte nächtelang darüber nach, was passiert war.« Er wirkte geistesabwesend, schien zwischen Wirklichkeit und Erinnerung zu schweben. »Wusste Veronica, was mit Elijah geschah, oder hatte ihr Geist alles verdrängt? War sie nach all den schrecklichen Dingen, die unser Vater ihr antat, letztlich eingeknickt? Ich bin nicht blöd. Es heißt, der Hang zum Missbrauch sei erblich und werde wie Alkoholismus weitergereicht. Ich ging jeden Abend in der Annahme zu Bett, meine Schwester habe ihrem Sohn etwas Furchtbares angetan.«

Er schwenkte zurück in die Gegenwart und sah mich direkt an. »Sie ist meine Schwester. Ich danke dir, dass du bewiesen hast, dass sie kein Monster ist – dass Vater sie nicht völlig ruiniert hat. Danke, dass du mir diesbezüglich Klarheit verschafft hast.«

»Du verschweigst mir etwas. Etwas, das du geflissentlich aussparst.«

Mir war, als umspiele der Hauch eines Lächelns seine Mundwinkel. »Du schreibst toll, bist aber kein großartiger Schriftsteller. Dazu müsstest du jeden noch so kleinen Stein umdrehen und darunter nachschauen, fast wie es ein Detektiv täte. Keine Möglichkeit dürftest du außer Acht lassen. Egal wie gern du deine Charaktere in eine bestimmte Richtung führen möchtest, du kannst sie am Ende doch nur so handeln lassen, wie es für sie natürlich ist.«

»Scheiße, das klingt richtig scharfsinnig.«

»Erinnerst du dich an den Friedhof? Du hast mich als Mörder bezeichnet. Und ich habe dir versichert, dass ich meinen Neffen nicht umgebracht habe.« Er nahm die Flasche wieder zur Hand und füllte die Gläser erneut. »Was ich damit sagen will, Glasgow, ist Folgendes: Wir liegen vielleicht beide richtig.«

Wir starrten uns lange, lange an. Zuerst begriff ich nicht, was er meinte … als es mir schließlich dämmerte, geschah es nicht wie aus heiterem Himmel, sondern tröpfchenweise, bis alle Nischen und Winkel, alle Ausbuchtungen in meinem Geist ausgefüllt waren wie die Lungen eines Ertrinkenden mit schwarzem Wasser.