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Im Laufe der Monate nach Kyles Tod wurde ich missmutig und verschlossen. Zunächst mutete es nicht außergewöhnlich an, dass ich mich vor lauter Kummer von Adam und auch von meinen Eltern zurückzog, aber selbst wenn es noch schlimmer geworden wäre, hätte es niemand aus der Familie in der allgemeinen Stimmungslage bemerkt. Nicht dass sich Mutter und Vater zunehmend im Elend suhlten und seit Kyles Tod immer weniger ansprechbar wurden; nein, die beiden – seit jeher wohlwollend und warmherzig – vermochten einfach nicht, die Energie und Leidenschaft wiederzufinden, die sie als Eltern ausgemacht hatte, bevor es zu jener schrecklichen Tragödie gekommen war. Irgendetwas hatten sie verloren und wussten nicht, wie sie es zurückerlangen konnten.

Sie zogen sich in ihrer kleinen Doppelhaushälfte in Eastport zurück, wie etwas Dunkles im Winterschlaf, oder eine Leiche in ihr Grab. Eine besorgniserregende Kluft hatte sich zwischen den Hinterbliebenen von Familie Glasgow gebildet, und zu der Zeit, da man sie wahrnahm, hatte sie sich derart geweitet, dass man sie kaum mehr schließen konnte.

Meine Mutter, einst eine großmütige und beseelte Frau, die ihr Leben mehr oder minder genauso wie die vorige Generation fast ausschließlich über ein Dasein als handzahme Hausfrau definierte, verschrieb sich der Religion. So schleppte sie mich jeden Sonntag in die Kirche des St. Nonnatus, wo wir auf einer Bank hockten, die nach Möbelpolitur roch, und einem Priester zuhörten, der sich auf der Kanzel über Gottes Großartigkeit ausließ. Diese Pilgergänge hielt sie über ein Jahr durch. Ob es ihr etwas gebracht hat, weiß ich nicht. Allein dass ich dabei in Mitleidenschaft gezogen wurde, kann ich mit Gewissheit sagen, wenngleich wiederum unklar bleibt, ob dies so beabsichtigt war. Ich fasste es als Buße für meine Schuld an Kyles Tod auf, auch wenn ich nie mit Mutter darüber sprach.

Mein Vater, dessen bloßes Auftreten mir seit jeher Respekt eingeflößt hatte, schrumpfte mit jedem Tag weiter, nun da irgendein lebenswichtiges Organ, ein tragender Knochen in ihm zerschlissen war. Er erinnerte mich mehr und mehr an eines jener alten Autos auf Betonblöcken; auch ihn schien allmählich farbloses Unkraut zu überwuchern. Nach Kyles Tod verfiel er dem Alkohol, und diesem gottlosen, selbstzerstörerischen Pfad folgte er bis zur Endstation Prostatakrebs viele Jahre später.

In diesen letzten Jahren meiner Erinnerungen an diesen Mann, wurde aus dem einst sportlichen, ausgeglichenen, strengen, mitfühlenden und insgesamt guten Vater und Ehemann ein Bild einer alten Rostlaube an einer Straßenecke. Selbst jenes Bild vom aufgebockten alten Wagen wurde ihm nicht mehr gerecht. Er entwickelte sich zu einer Karikatur, schwer zu fassen und gestaltlos, zusammengesunken im Sessel vor der Glotze mit einer Flasche Dewar auf dem Beistelltisch daneben und entrücktem Blick, der an einen Anstaltsinsassen denken ließ.

Adam wurde mir schlicht fremd – wie einer von vielen Jungen aus der Nachbarschaft, die ich nicht kannte und nur vage voneinander unterscheiden konnte, wenn ich sie auf dem Schulhof sah. Ein Jemand, der eben auf dem Flur direkt gegenüber wohnte.

Eine kurze Zeit lang hegte ich ein düsteres, gewalttätiges Geheimnis: Vogelküken, die ich in ihrem Nest hinterm Schuppen zerquetschte, und auf Klebstreifen gesammelte Ameisen, deren Todeskampf ich bis zum Ende mitverfolgte.

Nach einem verheerenden Unwetter, bei dem auch etliche Bäume und ein Leitungsmast in unserer Gegend umgestürzt waren, hüpfte ein kleiner, brauner Frosch aus einer Dreckpfütze auf der Straße. Ich fing ihn ein und trug ihn hinter den Schuppen im Garten. Während das Tierchen in meinen geschlossenen Händen umhersprang, vermutlich mehrere Stunden, saß ich auf einem Bündel Feuerholz.

Als ich die Finger schließlich öffnete und den Frosch freiließ, hüpfte er ins Gestrüpp davon, und mir liefen Tränen über die Wangen. Meine Schreckensherrschaft über die kleinen Geschöpfe in der Umgebung war vorüber … aber es blieb das dumpfe Gefühl von Schuld zurück.

Letztendlich wurde ich zu einem schreckhaft nervösen Chaoten, der nicht nur sich selbst unruhig machte, sondern auch die Leute um sich herum. Jeder rechnete damit, dass man mich irgendwann ins Gefängnis steckte, was zu mehreren Anlässen durchaus gerechtfertigt gewesen wäre. Doch dazu kam es nie. Ich befand mich in einer, wie es ein Therapeut ausdrückte, »unbestimmbaren Gegenwart«, einer Art ständigem Wandel. Stets verändernd, immer weiter entwickelnd. Ich dachte dabei an Raupen, die zu Schmetterlingen wurden, und die glitschigen, fetten Bälge aus Gremlins, die leuchtend grünen Schleim spien.

Ich hatte Angst davor, Kyle würde aus dem Grab zurückkehren. Am Abend seines ersten Todestages war ich fest davon überzeugt, dass er mich holen kommen würde. In jener Nacht fand ich keinen Schlaf; zu angespannt war ich, saß aufrecht im Bett und wartete darauf, dass er sich barfuß mit triefenden Fetzen am Leib über den Flur schleppte. Dann würde er mein Zimmer betreten, mit Knochenbrüchen, eingeschlagenem Schädel und einem Teint in gotteslästerlichem Blaugrün wie Schimmel, der auf Brot wächst, und der mich nicht mit seinen Augen anstarrt, sondern mit schwarzen, seelenlosen Löchern in seinem Kopf, aus denen schlammiges Wasser an seinem verwesenden Gesicht hinablief.

Er würde mit einem anklagenden Finger zu mir deuten, während er in meiner Tür stand, in einer Pfütze dunklen Wassers. Du hast mir das angetan, würde er dann sagen. Du hast mir das angetan, Travis. Als mein älterer Bruder war es deine Pflicht, auf mich aufzupassen, doch stattdessen hast du mich umgebracht. Jetzt bin ich hier, um dich mitzunehmen – zurück ins Wasser, wo du versinken und auseinanderfallen wirst wie zerbrochenes Glas.

Ich dachte wieder: Du hast mir das angetan. Ein Teil des Selbst stirbt, wenn man seinen Bruder umbringt.

Infolgedessen begann ich, mich nachts in meinem Zimmer einzusperren. Niemand schien sich etwas dabei zu denken, also schwieg man sich aus. Wälzte sich mein alter Herr gelegentlich im Suff aus dem Bett und torkelte ins Bad, schlug mein Herz bis zum Hals, und auf meiner Haut bildete sich ein dünner Schweißfilm. Ich war mir sicher, Kyle würde kommen. Erst als ich die Klospülung hörte, wusste ich bestimmt, dass ich vorerst davongekommen war. Bald aber … bald …

In meinen Träumen raste ich durch einen kaleidoskopischen Trichter, in dem mannigfaltige Eindrücke über mich hereinbrachen – von eisigem Wasser dunkel wie der unendliche Raum, von ewiger Schwebe und Angst vor dem Fall, der doch nie erfolgte, vom dumpfen Aufschlag von Knochen auf fester, aber unsichtbarer Oberfläche.

Ein wiederkehrender Albtraum, in dem ich durch ein Labyrinth aus Lattenzaun, dessen Spalten und Astlöcher im Holz hetzte und ständig Blicke auf die Freiheit erhaschte, die dennoch unerreichbar blieb. Zuletzt brach ich erschöpft zusammen und stellte fest, dass der Boden unter mir nicht mehr fest war, sondern ein bloßes Miasma aus zu Wolken verdichtetem Qualm wie Treibsand. Ich kämpfte gegen den Erstickungstod an, wusste aber, dass es zwecklos war, und musste mich immer tiefer hineinziehen lassen, allerdings nicht vom Sand, sondern einem Paar Hände an meinen Fußgelenken.

Die Leblosigkeit im Haus nahm ebenso zu – einengend, zerrüttend und finster wie der Schlund der Hölle, und ungefähr so subtil wie ein Steinschlag.

Mit achtzehn zog ich aus, da meine Eltern von Rechtswegen her nicht mehr über mich verfügten. Was folgte, war eine irre Serie von Fehltritten, die besser unausgesprochen bleiben. Die Bekanntschaften, die ich in jener Phase meines Lebens machte, schienen sich zum Vorsprechen für einen miesen Film herausgeputzt zu haben – Lederjacken, Siebziger-Shirts mit weiten Kragen, Tätowierungen, teilweise rasierte Schädel und Piercings an allen möglichen Stellen und sie misstrauten jedem, der sich nur unmerklich von ihrer Clique abhob – und ich handelte mir eine Menge Ärger ein, auf den wirklich niemand stolz sein sollte. Bei Schlägereien zog ich mir blaue Augen und nicht nur einen Satz heiße Ohren zu, vor allem auch eine nicht ungefährliche Schnittwunde am linken Bizeps, nachdem ein überempfindlicher Fremder sein Butterfly-Messer aus Reflex über meinen Arm gezogen hatte.